An einem Samstag musste ich berufsbedingt zu einer Tagung reisen.
Der Veranstaltungsort lag jedoch in einem touristischen Epizentrum mit äußerst großer Beliebtheit.
Darüber machte ich mir anfangs jedoch keine Gedanken. Im Rückblick wäre jedoch eine umfangreiche Sicherheitsanalyse mit einer konsequenten Umsetzung notwendig gewesen.
Aber, wie so in vielen Situationen, im Nachhinein ist man natürlich immer klüger.
Das Grauen nahm also seinen unerbittlichen Verlauf.
Noch etwas verschlafen fuhr ich zum Bahnhof.
Nichtsahnend dachte ich noch über meinen Vortrag nach. Je näher ich jedoch dem Hauptbahnhof kam, desto bizarrer wurde die Umgebung.
Kleine Gruppen strömten in Richtung der Bahnstation.
Alle Leute sahen in einer bestimmten Weise ähnlich aus.
Jeder hatte einen Rucksack, erodynamische Wanderschuhe, Regenkleidung, einen Hut oder eine Kappe und einen Stock, bei sich.
Als ich ausstieg, sah ich aus dem Bahnhof eine gewaltige Eruptionssäule aufsteigen.
Ich stand auf dem Bahnhofsvorplatz und aus allen Himmelsrichtungen strömten Wandergruppen auf den Eingang zu.
Ich überlegte, ob heute eine elitäre Modenschau für Wanderkleidung angekündigt war. Davon stand nichts im Kalender.
Also arbeitete ich mich zu dem Abfahrtsgleis vor.
Zwischendurch hörte ich Wortfetzen wie
Nanga Parbat, K2, Eiger - Nordwand, Annapurna, Großglockner, Matterhorn, . . .
Andere Leute hatten ihre Kletterausrüstung schon angelegt, als ob sie ihre Kletterkünste schon an der Bahnhofsfassade ausprobieren wollten.
Meine Fahrkarte hatte ich zum Glück schon einige Tage vorher gelöst.
Vor den Fahrkartenverkaufsschaltern bildeten sich lange Warteschlangen. Die Automaten wurden ebenfalls von ungeduldig wartenden Leuten belagert. Hatte es einer der Wartenden geschafft, den Fahrkartenautomaten zu erreichen, tippte dieser so hektisch auf die Tastatur herum, so dass man sich über die Befindlichkeit des Automaten Gedanken machen musste.
Je näher ich dem Abfahrtsgleis kam, an dem mein Zug abfahren sollte, wurde mir deutlich, dass alle diese Gruppen zu dem selben Bahnsteig wollten.
Mir wurde schlagartig deutlich, dass alle diese strategischen Einheiten den selben Zug nehmen wollten.
Ich brauchte also nicht mehr nach dem betreffenden Gleis zu suchen, sondern wurde zielgerichtet zur wartenden Bahn gespült.
Einen freien Sitzplatz konnte ich nicht mehr ausmachen. Alle Plätze waren von hochgradig motivierten Wanderern belegt.
Ich stand in einer Ecke, eingezwängt zwischen Rucksäcken, Wanderstöcken und wild gestikulierten Wanderfreunden.
Schließlich fuhr der Zug an. Eine Mischung aus Erleichterung und freudiger Erwartung, was kommen wird, war in den Gesichtern zu sehen.
Die ersten Wanderprofis holten bereits ihren Proviant heraus. Stolz präsentierten sie das Mitgebrachte den anderen Mitstreitern.
Unterschiedlich belegte Brötchen, Weggli, Sandwiches, Sushi - Röllchen, Kipferl, Semmel, Beagles, … wurden andächtig betrachtet.
Anerkennendes Nicken der Nachbarn war die Folge.
Die feilgebotenen Delikatessen konnten einem gut sortierten Feinkostladen durchaus Konkurrenz machen.
Ich schaute mein liebliches Käsebrötchen an, welches mit Alfalfasprossen, Brunnenkresse und Salatblättchen belegt war und war trotz der aufgebotenen kulinarischen Gerichte zufrieden.
Andere Gruppen fabulierten über ihre wetterfeste Ausrüstung.
Hoch effiziente, wasserabweisende Jacken, Rucksäcke und Schuhe wurden begutachtet.
Über die Vorzüge und Handhabungen wurde ausgiebig diskutiert und mit fachmännischem Wissen angereichert.
Einer hatte sogar eine Jacke dabei, welche für kältere Temperaturen bis minus 40 Grad geeignet war.
Meine hoffentlich seriöse Kleidung konnte mit diesen Meisterwerken hoher Ingenieurkunst nicht mithalten.
Ebenso intensiv wurden die Rucksäcke begutachtet. Ein richtiger Wettbewerb, welcher Tragebeutel am leichtesten ist. Zwei Wanderer vergleichten sogar das Gewicht ihres Essbestecks. Einer reichte eine besondere Mutation von einer Gabel und einem Löffel herum.
Alle schauten dieses Wunderwerk der Technik erhaben an.
Ich dachte an meinen Rucksack, der lediglich einige Vortragsunterlagen und Moderationsmaterial enthielt.
Damit hätte ich mich nicht auf eine Bergtour begeben können.
Eine andere Gruppe unterhielt sich über die bereits bestiegenen Berge. Eine Person erzählte von einer besonders schwierigen Route am Großglockner. Der andere Profi lächelte nur mitleidig darüber und berichtete ausführlich von seiner Uhuru Peak Expedition, am Kilimandscharo-Massiv.
Ich dachte da an meine letzte Bergbesteigung. Mein „Berg“ hatte nur 535 Meter aufzuweisen und hieß Blettersberg.
Kleinlaut muss ich zugeben, dass ich mich von einem Sesselbahn auf die schwindelerregende Höhe fahren gelassen habe.
https://steemit.com/deutsch/@chruuselbeeri/die-rietburg-entfuehrung-einer-koenigin
Damit konnte ich wohl keine Schnitte bei den Extrembergsteigern machen.
Der römische Dichter Seneca tröstete mich aber mit den Worten:
„Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe.“
Da kann ich mich noch mit meinem Fünfhunderter noch entwickeln.
Aus den Rucksäcken wurden erbauliche Getränke präsentiert. Unterschiedliche Variationen von Obstbränden, Schnäpsen, Gerstensäften und anderen Flüssigkeiten wurden zur ersten Probe herumgereicht.
Ich lehnte dezent ab, da ich in meinem Vortrag noch einigermaßen Informatives herüberbringen wollte.
Je weiter die Zeit fortschritt, fragte ich mich jedoch, ob die Wanderer ihre geplante Wanderroute noch einigermaßen bewältigen konnten. Der gewiss nicht geringe Alkoholgehalt förderte zwar die Motivation für anspruchsvolle Klettersteige, schränkte aber den Gleichgewichtssinn allmählich ein.
Da nahm ich mir vor, es wie Goethe zu halten:
„Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler.“
Einige sangesfreudige Gesellen stimmten zur Erbauung einige Wanderlieder an.
Die allgemeine Stimmung im Zugabteil erreichte ungeahnte Höhen.
Der Zug erreichte nach einer gefühlten Ewigkeit, den touristischen Zielbahnhof.
Alle motivierten Wandergruppen strömten aus der Bahn. Sie konnten nun voller Elan ihre Eroberung beginnen.
Vielleicht, wurden sie aber auch nur vom Alten Wald, einem Waldgebiet in Eriador, aus dem Roman „Herr der Ringe“, verschluckt.
Werden die Wanderer wie Frodo, Sam,Pippin, Merry, unbehelligt von der Wanderung zurückkommen ?
Plötzlich war es im Zugabteil erstaunlich still. Der Waggon war fast leer. Die Bahn fuhr durch eine wunderschöne Landschaft.
Die Umgebung glich dem Bild „Der Morgen“, welches Caspar David Friedrich 1820 malte.
Im Hintergrund meinte ich die Morgenstimmung, aus der 1. Suit, Peer Gynt, von Edvard Grieg, zu hören.
Endlich kam ich am Seminarort an.
Die Veranstaltung verlief sehr gut. Der Vortrag erhielt gute Zustimmung.
Gegen Abend machte ich mich wieder auf den Rückweg.
Anfänglich verlief die Fahrt sehr entspannt.
An dem touristischen Hotspot füllte sich die Bahn jedoch wieder schlagartig.
Die erschöpfte Wandergruppen, welche nicht mehr ganz so engagiert waren, belagerten alle Plätze.
Mir erschien, dass die vorüberziehende Landschaft jetzt eher dem Bild „Der große Wald“, von Max Ernst, glich.
Ähnlich war die Stimmung der Mitreisenden.
Die motivierten Gruppen hatten wahrscheinlich
den Weltenbaum, die Esche Yggdrasil, oder den Baumstamm Irminsul, der Sachsen,
nicht gefunden.
Aber ihre Wandererlebnisse wird sie für die nächste Woche motiviert haben.
Joseph von Eichendorff beschreibt in seinem Gedicht „Abendlich schon rausch der Wald“, die Situation treffend:
„Alles geht zu seiner Ruh, Wald und Welt versausen, schauernd hört der Wanderer zu, sehnt sich recht nach Hause. Hier in Waldes grüner Klause, Herz, geh endlich auch zur Ruh !“
In diesem Artikel können homöopathische Dosen an Humor enthalten sein. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragt eure Deutschlehrer oder Anthropologen.