Eiskalt wie der Tod

@dirkzett · 2025-06-09 03:19 · deutsch

Ein Gedankenverbrechen

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Es ist schon Jahre her, als ich das letzte Mal meine Ex-Schwiegermutter im Pflegeheim besuchte. Sie erkannte mich nicht mehr, hielt mich für eine Bedrohung. Deswegen bin ich danach nicht mehr mitgefahren. Als ich mit meiner Ex damals das Zimmer betrat, ein kleines Zimmer, eingerichtet mit ihren alten Möbeln, die Vorhänge zugezogen, es war sommerlich warm und es roch streng, nicht nur so, wie alte Leute riechen, sondern strenger. Meine Ex-Schwiegermutter saß suszammengesunken in ihrem Lieblingssessel. Sie wog nicht mehr viel.

Mitten auf ihrem Rücken, auf ihrem hellblauen Polohemd, war ein großer brauner Fleck. Wahrscheinlich hatte sie ihre Windeln schon so lange getragen, dass sie zu voll waren. So voll, dass die Fäkalien nach oben gedrückt wurden, raus aus der Windel, hoch bis zum Rücken. Meine damalige Ex, selbst Allgemeinmedizinerin, bemühte sich, irgendwie Kontakt aufzunehmen, aber es war wohl einer der schlechteren Tage. Ich bin dann rausgegangen und habe Personal gesucht, um die Windeln wechseln zu lassen oder mich zu beschweren, vielleicht auch beides. Die Antwort vom Personal war ziemlich ernüchternd. Sie ist später dran, hieß es. Und dann ließ man mich einfach stehen.

Es war auch das letzte Mal. Ich bin nie wieder mitgefahren. Aber das Bild blieb. Und es hat mich lange beschäftigt. Nicht wegen ihr, ich mochte meine Ex-Schwiegermutter nicht sonderlich und wir hatten kein familiäres Verhältnis. Sondern weil ich weiß, dass ich genau so mal da sitzen werde. In einem anderen Sessel, vielleicht auch nur auf einem Stuhl, den das Heim gestellt hat. Aber genau so, jahrelang. Und das für täglich 180 Euro.

Zum Glück für die Familie kann sie das selbst bezahlen, aus ihrem Einkommen aus Kapitalerträgen und Mitzahlungen. Aber das können die wenigsten, ich könnte das nicht. Und dann zahlt die Familie.

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Ohne Ende bis zum Ende

Manchmal denke ich darüber nach, was passiert, wenn man an dieser Schwelle steht. Wenn es zu Hause nicht mehr geht. Wenn die Gelenke nicht mehr mitmachen, das Gedächtnis aussetzt, der Körper zu viel Betreuung braucht. Wenn der Moment kommt, wo jemand sagt: Jetzt geht es nicht mehr, jetzt braucht er rund um die Uhr Hilfe.

Dann wird ein Platz gesucht. Irgendwo in der Nähe. Irgendwo mit Verfügbarkeit. Und dann sitzt man da. In einem fremden Zimmer, mit fremden Gerüchen, fremden Stimmen, fremden Regeln. In der vollen Windel. Und man weiß, dass das so lange so sein wird, bis man nichts mehr weiß.

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180 Euro. Jeden Tag.

Mein Bungalow in einer gated Community auf Phuket hat rund 30 Euro am Tag gekostet. Drei Schlafzimmer, zwei Bäder, Wohnzimmer mit Blick auf die Andamanensee, Gemeinschaftspool. Ein englischsprechendes Escort einer Agentur in Phuket ungefähr 100 Euro pro Tag für 24/7. Eine Putzfrau, eine gute Putzfrau, auch nochmal 30. Ich werde nicht ins Pflegeheim gehen. Ich werde nach Phuket ziehen. Und dort rund um die Uhr versorgt werden von einem hübschen Escort und einer zuverlässigen Haushaltshilfe. Und es reicht sogar noch für eine Krankenversicherung. Und wenn es dann gar nicht mehr geht; im Bangkok-Hospital kostet eine Nacht mit eigener Schwester rund um die Uhr nicht mal 200€/ Tag und es gibt bestimmt Rabatt bei Langzeitbuchung.

Aber halt!

Meine Pflegeversicherung ist ja gar nicht meine. Es ist nur eine weitere Zwangsabgabe an den Staat, der damit tut, was er will. Und er will, dass ich in Deutschland bleibe, sonst zahlt „meine“ Pflegeversicherung nicht. Er will, dass ich in Deutschland bleibe, wo meine Pflegeversicherung nicht ausreicht. Per Gesetz.

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Eine Pistole in meinen gichtigen Händen ändert alles

Nicht, was ihr denkt. Dazu bin ich wahrscheinlich zu feige, solange ich noch etwas sehen kann, und danach ist es vielleicht zu spät.

Aber:

Wenn das Pflegeheim schlimmer als der Knast ist und ich es auch noch bezahlen muss, beziehungsweise meine Familie dafür ausgepresst wird, dann gehe ich doch lieber in den richtigen Knast. Kostenlos, umsorgt, behütet, überwacht.

Ist der Knast besser als jedes Pflegeheim?

Ich habe gesehen, was ich gesehen habe da im Pflegeheim. Aber ich weiß, jeder von uns hat andere Erlebnisse gemacht, hat andere Geschichten gehört, noch Schlimmeres oder auch Gutes. Corona hat noch mal eins draufgesetzt und die Isolation vollkommen gemacht. Nein, natürlich nicht der Virus selbst, es war der fürsorglicher Staat.

Hier ist ein Vergleich von Knast als letzte Adresse vor der Gruft und Pflegeheim:
Aspekt Pflegeheim (typisch in Deutschland) Justizvollzug (Pflegeabteilung oder Altersvollzug)
Kosten pro Tag 180–250 €, teils durch Familie zu zahlen 0 €, wird vom Staat getragen
Zimmergröße & Ausstattung 1–2-Bett-Zimmer, oft steril, wenig Privatsphäre Einzelzelle oder 2er-Belegung, oft abschließbar
Pflegepersonal Unterbesetzt, oft wechselnd, Zeitdruck Feste Zuordnung, dokumentationspflichtig, standardisierte Abläufe
Windelversorgung 2–3× täglich, oft verspätet Planmäßig, dokumentiert, bei Bedarf häufiger
Medizinische Versorgung Hausarzt 1×/Woche, Fachärzte selten Arztvisiten regelmäßig, Zugang zu Grundversorgung gesichert
Tagesstruktur Wenig Aktivierung, passiver Alltag, TV Fester Ablauf, geregelter Tagesplan
Sozialkontakt Abhängig von Mobilität, selten Betreuung Regelmäßiger Kontakt mit Mitinsassen, Gruppenaktivitäten
Psychologische Betreuung Selten, auf Anfrage, kaum feste Bezugsperson Teil der Resozialisierung, verpflichtend bei Bedarf
Sicherheit & Kontrolle Eher offen, aber oft mit Risiken durch Unterversorgung Voll kontrolliert, rechtssicher, rund um die Uhr überwacht
Essen 3× täglich, oft püriert, selten individuell 3× täglich, kaloriengerecht, standardisiert
Beschäftigung Basteln, Bingo, Fernsehraum Arbeitspflicht möglich, Bücher, TV, Gespräche
Würde / Selbstbestimmung Eingeschränkt, abhängig vom Personal Rechtlich besser geschützt, klarere Ansprüche

Ich weiß noch immer nicht, was besser ist, bis auf einen Punkt: 180 Euro.

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Wer muss dran glauben, damit ich leben kann?

Wen erschieße ich, weil ich zu feige bin, mich selbst zu erschießen und nicht in meiner vollen Windel sitzen will??

Ich meine, ich habe nicht viele Möglichkeiten. Ich sitze im Rollstuhl. Ich komme nicht weit. Es muss jemand sein, der zu mir kommt. Jemand, der nicht damit rechnet. Die vom Essen auf Rädern? Oder die, die die Windeln bringen? Oder der Amtsarzt, der mich einweist? Oder das Personal, das mich ins Pflegeheim bringen soll?

Ich werde das Personal erschießen. Die Leute, die mich ins Pflegeheim bringen werden. Das ist ein Motiv. Und das kann ich gut begründen vor Gericht. Sie sind in dem Moment ein natürliches Ziel. Sicher, es ist Pech für die Leute. Aber mal ganz ehrlich; der Job ist auch nicht der Hit. Vielleicht haben sie sowieso keine Lust mehr? Vielleicht sind sie nur genauso feige wie ich?

Das Argument, dass sie nur ihren Job machen, zählt nicht. Denn unser lieber Staat hat mir beigebracht, dass selbst eine Sekretärin am falschen Schreibtisch sehr wohl eine Massenmörderin sein kann. Und das Personal weiß, wohin es mich bringt und was mich dort erwartet. Wer weiß, wie zukünftige Generationen darüber urteilen werden. Vielleicht nehme ich nur ein Urteil vorweg?

Oder, noch besser:

Ich habe letztens im Fernsehen eine Reportage gesehen, wo jemand von unserer Regierung ein Schutzzentrum in Ozeanien für alleinstehende lesbisch-queere Mütter eröffnet hat und auch um Spenden gebeten hat, weil es diesen lesbisch-alleinstehenden queeren Müttern gar nicht so gut geht da in Ozeanien. Ich werde genau so viel spenden, wie ein Jahr im Pflegeheim kostet. So viel Geld habe ich und so viel werde ich spenden. Und ich werde darauf bestehen, dass ich meine Spende öffentlich überreichen darf, dieser netten Politikerin, die sich so viel Mühe gibt, damit diese alleinstehenden lesbisch-queeren Mütter es nicht mehr so schwer haben da in Ozeanien.

Das ist es. Mein letztes Abenteuer. Ein Mord auf Rädern.

Dort sind Kameras dabei. Und dann wird niemand sagen können: Der ist verwirrt oder hat ein Trauma. Weil die sehen mich ja. Die sehen, dass ich das geplant habe, sitzend im Rollstuhl, eiskalt mit Vorsatz und niederträchtig. Wegen 180 Euro pro Tag, Mord aus Habgier und Bereicherung. Und dann darf ich in den Knast statt ins Pflegeheim.

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Aber ich hab ja keine Pistole.

Solche Gedanken aufzuschreiben ist kein Verbrechen. Aber es sind Verbrechen, die zu solchen Gedanken führen.

Danke fürs lesen

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Wer sich in den sozialen Medien ein bisschen auskennt, weiß, dass ich hier ganz, ganz hart am Wind segle. Und wer sich in der deutschen Gesetzgebung auskennt, der weiß das auch. Ich finde es unendlich traurig, dass man selbst bei rein fiktiven Texten heute schon so viel Absicherung im Kopf haben muss, dass ich mich gedrängt fühle, diesen Disclaimer abzugeben:

Dieser Text ist vollständig fiktiv. Er ist keine Aufforderung zu irgendeiner Handlung, schon gar keiner ungesetzlichen. Er ist keine Stellungnahme, kein politisches Statement, keine Anklage. Es ist ein innerer Monolog. Ein Gedankengang, durchgespielt bis zum Ende. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Zufällige Übereinstimmungen mit realen Zuständen sind eben das: zufällig. Und nicht gewollt.

#deutsch #gedankenverbrechen #fiktivermonolog
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