Im ersten Artikel ging es um Entropie im allgemeinen und im zweiten Teil um den Zusammenhang zum Leben und unserer Wahrnehmung. Diesmal geht es um externe (groß-) Ereignisse und die Entwicklung von Systemen.
Systeme, Prozesse und Ereignisse
Hierzu sollte man wissen, dass vieles was wir in den indogermanischen Sprachen als "System" beschreiben (der Regen, der Donner,...) ein Prozess ist und jedes System, was als Menge von Prozessen stattfindet (Du oder das Universum) auch ein Ereignis ist. Das sind also alles verschiedene Sichtweise auf eine Sache. Nimm z.B. deinen Oberarmknochen, diesen nennen wir so, weil wir ihn als System "Knochen" sehen. Dabei ist er zu keinem Moment der Selbe wie im Moment davor. Es passiert zwar sehr langsam, aber er ist ein Prozess. Alle 10 Jahre wechselt sich das Skelett einmal komplett aus. Es braucht diese Dynamik um auf Umweltveränderungen oder auch Verletzungen reagieren zu können. (Office of the Surgeon General-US (2004)) Du insgesamt, bist immer etwas anderes mit jedem Augenblick aber doch in der Bilanz stabil. Du bist eine räumlich/zeitlich organisierte Struktur (ein Muster) ohne äußeres Zutun. Ob ein Wasserstoff Atom gegen ein anderes ausgetauscht wird, das ist für deine physische Integrität unerheblich. Diesen Prozess der Aufrechterhaltung der Bilanz, nennt man Homöostase.
Unser Alltag ist meist ruhig und ohne größere Abweichungen, somit ist die Homöostase, für diesen geschaffen toleriert aber auch gewisse Ausreißer. Doch die Geschichte der Menschheit, des Lebens und des gesamten Universums wird von extremen Ereignissen dominiert. Ja das Universum an sich ist sogar ein solches.
Katastrophe
Im Alltagssprachgebrauch bezeichnen wir mit Katastrophen oft Dinge wie Erdbeben, Kernschmelzen in einem AKW oder einen Öl-Tanker der havariert. Nur wenige bezeichnen Börsencrashes als Katastrophe und so gut wie niemand würde die Geburt eines Kindes, den Umsprung eines Hundes auf Aggressionsverhalten, den Urknall oder den Magnetismusverlust eines Ferromagneten beim Unterschreiten einer bestimmten Temperatur als Katastrophe bezeichnen. Und dennoch sind sie von der Dynamik her, das was die Katastrophentheorie eine Katastrophe nennt. Eine Katastrophe ist mathematisch betrachtet also ein Ereignis bei dem ein System schlagartig seine Eigenschaften ändert. Diesen schlagartigen Übergang nennt man einen Phasenübergang. Dieser lässt sich als Bifurkation (Gabelung) oder Verzweigungspunkt in einem sogenannten Phasendiagramm darstellen.
[Orginal von PAR - CC0 Wikipedia]
So eine Gabelung kann z.B. einen Baum, der unter Schneelast bricht, darstellen. Man legt eine gewisse Menge auf die Krone und solange nichts passiert bleibt die Veränderung in x=0, man erhöht und irgendwann entscheidet sich das System nach links oder rechts wegzubrechen. Manche Systeme wie im Diagramm durchlaufen auch mehrere Phasenübergänge.
Zusammenhang zum Urknall
Erst war nichts...also Vakuum aka. Quantenfluktuationen, d.h. virtuelle Teilchen (die nicht real existieren, sondern nur eine Möglichkeit sind) werden real, zerfallen aber so schnell wieder, dass wir sie nicht zur Realität zählen. Das geht die ganze Zeit so (es fluktuiert). Aber! nach laaaanger "Zeit" oder streng genommen nach vielen Fluktuationen wird ein Teilchen (genau genommen sind es Teilchen-Anti-Teilchen-Paare) es in die Realität schaffen und dort bleiben. Egal wie klein die Wahrscheinlichkeit ist, solange sie nicht Null beträgt, wird es irgendwann passieren. Boooom!
Warum kommt es zu einem Phasenübergang? Warum wird aus nichts --> etwas? Es kann doch einfach nichts bleiben...
[Von RupertMillard, CC0 Wikipedia]
Abgesehen von der probabilistischen Erklärung, dass es irgendwann passieren muss, weil die Wahrscheinlichkeit nicht Null wird, braucht es eine spontane Symmetriebrechung. Das bedeutet der Nullpunkt wo nichts passieren würde muss ein instabiler Zustand sein. Hier wird mit dem Maxican-Hat-Potential argumentiert, der Nullzustand ist von niedrigeren Potentialen umgeben. Eine Kugel die man auf den Sombrero legt, die liegt dort nicht stabil und muss sich spontan für eine Richtung entscheiden. Egal wo hin sie rollt, Fakt ist: es wird etwas passieren.
Unsere Tox- und Biochemie-Leute haben sich sicher schon mal gefragt warum wir in Organismen die links-gedrehten Moleküle haben (die Aminosäuren und Transmitter haben ja meist das "L" im Namen. L-Arginin, L-Tyrosin, L-Leucin, L-Dopamin usw.)
[Von Chirality with hands.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17071045]
das wäre eine Erklärung. Ein frozen Accident. Manche Dinge wurden einfach durch Zufall spontan festgelegt. (Shimizu 1984)
Zusammenhang zum Leben
Und solche Phasenübergänge kannst du extern erlebt zwar zum Teil überleben (viele sind ja auch positive Ereignisse ohne Effekt auf andere Systeme) aber aber als System selbst, da möchtest du doch eher weniger, dass sich deine Eigenschaften schlagartig ändern. Interessante Ausnahmen wo Organismen solche krassen Übergänge "zulassen" sind Metamorphosen bei manchen Insekten. Aber Phasenübergänge wie jenen beim Betreten eines brennenden Hauses, wo man in einem Moment noch lebendig ist und einem anderen Moment verdampft und zu Asche verbrennt, den braucht man nicht... also geht man per Design und Erlerntem eher nicht in brennende Häuser :D Unser Leben basiert also auf einem ausgeklügelten Vermeidungs- und Such-Verhalten. Dinge welche die Integrität laut Evolution gefährden, die werden vermieden und Dinge welche die Integrität erhalten, wie ein fettiger Burger, die werden gesucht und belohnt.
Eine Schneeflocke ist z.B. wie auch wir, ein selbst organisiertes System. Sie ist aber mit keinem Mechanismus ausgestattet, welcher sie vor Phasenübergängen bewahrt. Sie fällt zu Boden und wird schmelzen. Biotisches Leben, lässt das nicht so einfach zu. Die einfachste Zelle, wie eine Amöbe oder ein Pantoffeltierchen, die wird sich von einem Stressor entfernen, sie will ja schließlich leben!
Der Tippingpoint
Ein System entwickelt sich also zunächst in eine bestimmte Richtung (alles scheint gut) und plötzlich erreicht es einen Punkt wo die Dynamik umschlägt. Solche Punkte nennt man Tippingpoints. Die Deutsche Bezeichnung "Umpkipppunkt" ist sogar noch etwas treffender, weil man an das Umkippen eines Teiches oder Sees als System denken kann. Beim Teich oder dem Aquarium ist es so, dass wenn es einmal umgekippt ist, es kein Zurück gibt (für den Schmetterling, der noch zuvor eine Raupe war, eben so wenig). Das Ökosystem ist irreversibel geschädigt. Bei unserem Klimasystem gibt es auch Tippingpoints die sich gegenseitig triggern können und einen finalen Punkt wo das System/Tippingelement wie z.B. der Golfstrom zum erliegen kommt. Was dann den Ruin des Systems (oder auch Tod bedeutet). Es ist möglich, dass das Klimasystem sich noch länger vom Menschen beeinflussen lässt (was ein Fakt ist (der menschliche Einfluss) aka. 95% Confindence (IPCC 2014)) und es einfach nur dementsprechend wärmer wird, vermutlich werden Eisschmelzen aber nicht ohne verstärkende Auswirkung bleiben.
Kaskadische Verbreitung von Schadeffekten
Niemand kann sagen wo es hinführt und lineare Modelle wo es einfach immer wärmer wird sind auch Bullshit. Es mag sein, dass nach nur weiteren 2°C globaler Erwärmung die Schmelze des Grönland-Eis-Schildes durch das zufließende Wasser die Oberfläche des Ozeans verdunkelt (was so wäre), dies wiederum erhöht den Albedo und triggert das nächste Ereignis, was das Abschmelzen der Arktischen Schilde sein könnte, was zu einer weiteren Erhöhung des Albedos führte. Und so kaskadieren die Effekte regelrecht durch das System und triggern immer andere Tippingpoints. C02-Ausstoß und Erderwärmung hat keinen linearen Zusammenhang. Ich bin das Klimathema und seine populäre Darlegung etwas müde, das sollte nur ein Beispiel sein. Aber auch Krankheiten zeigen kaskadische Effekte, weshalb eine Person heute noch ganz gesund wirken kann und man eine Woche später erfährt, dass sie an Krebs gestorben sei. Auch hier gibt es einen letzten kritischen Punkt, weshalb man in der Medizin beim "kurz vor Hopsgehen" auch von einer Krisis spricht.
Singularitäten
Singularitäten sind die Wirkungszusammenhänge wo ein System zu einer hohen Instabilität herangereift ist, so dass ein kleiner externer Schock, einen Phasenübergang auslöst. Der Tippingpoint ist ja oft nicht fest gesetzt und vorbestimmt wie eine Soll-Bruch-Stelle oder der Siedepunkt einer Flüssigkeit, sondern geht aus der Wachstumsdynamik des Systems hervor. Es ist das Wachstum und dessen Geschwindigkeit die wir bei Kryptos sahen, welche zu der Singularität führte. Die Zeit welche die Wachstumsrate braucht um sich zu verdoppeln geht gegen null. Man braucht hier kein Mathe-Genie zu sein: Wenn du einen Kamin hast und Holz auflegst (immer gleich viel) sich aber die Zeit die du brauchst um das Holz zu holen und aufzulegen auf Null Sekunden zubewegt, dann kann das ganze nicht nachhaltig sein weil wir uns damit mit dem Holzauflegen auf Unendlich zubewegen. Ein System wie eine Rakete mit Triebwerk welches darauf programmiert ist, seinen Treibstoff-Durchsatz auf Unendlich zu erhöhen, würde so oder so irgendwann in der Dynamik kollabieren bzw. umschlagen. Einfach mitten im Senkrechtstart verrecken. Oft sind es aber externe Schocks die schon vorher einen Crash auslösen noch bevor die Idioten (wie wir ^^) ausgehen, die ihr Geld in den Markt stecken. Und in unserem Fall ist das Feuer runtergefahren worden, noch lange bevor die großen Holzscheite hätten aufgelegt werden können. Wird es nun noch mal aufflammen und dann zu einem globalen Flächenbrand? Hmm möglich aber nicht garantiert... Wird der Euro zu einem global erfolgreichen Phänomen und 1000x hinlegen? Nein. Also allein die Möglichkeit ist schon etwas sehr exklusives. (Johansen und Sornette (2001))
Dynamik eines Systems
Eine Blase wäre also nicht das, was wir als solche bezeichnen, sondern ein bestimmter Fingerabdruck in der Dynamik. Generell hat ein System eine Entwicklung. Uns wurde in der Schule klar gemacht, dass Evolution der Weg des Lebens vom Urschleim hin zum Menschen sei. Nun das ist eine Evolution, ja, und zwar die Evolution des Lebens. Aber jede gerichtete Entwicklung eines System über Zeit kann als dessen Evolution angesehen werden. Manche Systeme schwanken einfach nur zwischen zwei Zuständen hin und her, diese bezeichnet man als einen Oszilator. Ein Pendel oder eine Feder, auch unser Klimasystem oszilliert. Es gibt auch bio-Oszilatoren, diese gibt´s überall dort, wo nach einem Taktgeber gefragt ist (z.B. innere Uhren, bei Zellteilungen oder beim Herzschlag). Andere Systeme streben irreversibel immer neue Zustände an, so z.B. das Leben oder das Universum an sich. Wie ein Suchpfad frisst sich die Entwicklung in immer neue Bereiche. Klar statistisch gesehen könnte sie auch zurück, nur ist es halt bei der Komplexität des Systems viel zu unwahrscheinlich, dass sich etwas rückgängig macht.
[Ein oszilierendes System/Oszilator Von Pasimi - CC BY-SA 4.0 Wikipedia]
Jeder Punkt ist ein Zustand des Systems, z.B. deines Steem-Kontos oder deines Körpers, zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Gesamte Raum ist der Phasen-Raum oder Zustandsraum. Der Raum der Möglichkeiten. Alles was du sein könntest, WENN...es keine Abhängigkeit von einer bestimmten Anfangsbedingung gäbe. Die bestimmten Anfangsbedingungen für dein Steem-Konto, waren jene die herrschten als du dich anmeldetest. Der Steem-Preis, dein Startkapital, dein Wissen, deine Motivation, usw. Manche Züge sind also abgefahren. Der Pfad der sich hier abzeichnet nennt sich Trajektorie und diese bewegt sich auf einem sogenannten Attraktor. Also in Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen und durch Interaktion mit anderen Dingen, durch externe Schocks usw. entwickelst du dich, oder eine Spezies oder was auch immer sich auf einem bestimmten Attraktor und schlägst somit einen bestimmten Pfad ein. Nicht zwei, nicht fünf sondern einen Pfad.
Quellen:
Office of the Surgeon General (US); (2004): Bone Health and Osteoporosis. A Report of the Surgeon General
Shimizu (1984): Origin of chirality: A structural theory
Johansen und Sornette (2001): Finite-time singularity in the dynamics of the world population, economic and financial indices
Nolte, D. D. (2010): The tangled tale of phase space
Nolte, D. D. (2015): Introduction to Modern Dynamics: Chaos, Networks, Space and Time
Steven H. Strogatz (2014): Nonlinear Dynamics and Chaos: With Applications to Physics, Biology, Chemistry and Engineering
Boeing, G. (2016): Visual Analysis of Nonlinear Dynamical Systems: Chaos, Fractals, Self-Similarity and the Limits of Prediction
D. M. Lemoine, C. P. Traeger(2012):Tipping Points and Ambiguity in the Economics of Climate Change
Tabara et al. (2018): Positive tipping points in a rapidly warming world
TALEB, N.N., READ, R., DOUADY, R., NORMAN, J., BAR-YAM, Y. (2014): The Precautionary Principle (with Application to the Genetic Modification of Organisms). https://arxiv.org/pdf/1410.5787.pdf
TIMMERMANN, A., JIN, F. (2013): Predictability of Coupled Processes.
LEWANDOWSKY, S., ORESKES, N., RISBEY, J.S., NEWELL, B.R., SMITHSON, M. (2015): Seepage: Climate change denial and its effect on the scientific community. Global Environmental Change, Vol. 33, S 1-13. https://doi.org/10.1016/j.gloenvcha.2015.02.013.