ADHS bei Erwachsenen und Gesundheitsrisiken
Eine nicht erkannte bzw. nicht behandelte Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stellt ein erhebliches Risiko für die eigene Gesundheit, aber auch die eigene gesellschaftliche Entwicklung dar. Und offensichtlich führen die wirtschaftlichen Folgen dann wiederum dazu, dass man nicht die medizinische bzw. psycho-soziale Betreuung erhält, die eigentlich für die eigene Gesundheit wiederum erforderlich wäre.
Die hier vorgestellte Studie stammt aus den USA, wo sicher die Bedingungen im Gesundheitssystem noch extremer sind.In dieser Studie wird ausgehend von einer dem Befragten bekannten ADHS-Diagnose die Auswirkung auf das Verletzungsrisiko, Gesundheitsfolgen, funktionelle Einschränkungen der Gesundheit bzw. subjektives Gesundheitsempfinden und psychische bzw. psychosoziale Notlagen untersucht.
Und es geht dann u.a. um die Frage, ob überhaupt der Zugang zu einer Diagnostik und multimodalen Therapie für die ADHS-Betroffenen besteht. Schliesslich nehmen viele Psychiater aus unserer Sicht utopische Summen, wenn man eine ADHS-Diagnose oder Behandlung erhalten möchte bw. müsste. Aber auch bei uns ist ja die Verfügbarkeit von zeitnahen bzw. zielführenden diagnostischen und besonders therapeutischen Angeboten für ältere Jugendliche und Erwachsene aus dem ADHS-Spektrum als keinesfalls ausreichend einzuschätzen.
Daher denke ich, dass die Ergebnisse durchaus auch für Deutschland bzw. den deutschsprachigen Raum eine gewisse Aussagekraft haben.
ADHS hat lebenslange Auswirkungen
Während man früher das Hyperkinetische Syndrom bzw. ADHD als eine kinderpsychiatrische Störung abtat, die sich herauswachsen sollte, wird heute ADHS als eine "lifespan disorder" angesehen, also als eine neurobiologisch bestimmte Entwicklungs- und Verhaltensbesonderheit mit lebenslangen Auswirkungen für die Betroffenen und ihre Familien. Man schätzt, dass bei mindestens 60 Prozent der in der Kindheit diagnostizierten ADHSler krankheitsrelevante Auswirkungen bis in das Erwachsenenalter bestehen.
In den USA sind die Diagnoseraten ja teilweise hoch - möglicherweise sogar schon zu hoch. Wenn 10,2 Prozent der 5-17 jährigen Kinder und Jugendliche bereits einmal eine ADHS-Diagnose zugesprochen bekommen haben, ist das sicher eher am oberen Pol der Schätzungen einer Prävalenz von 5,3 bis 5,7 Prozent. Andererseits heisst das aber noch lange nicht, dass dann auch eine angemessene Behandlung bzw. weitere Begleitung erfolgt.
Dabei ist das fast noch grössere Problem, dass eben die Diagnose ADHS eben in vielen Fällen gar nicht gestellt und damit eine störungsspezifische Behandlung gar nicht erfolgen kann. Dies gilt offenbar immer noch für viele Mädchen mit Symptomen aus dem unaufmerksamen Subtyp von ADHS bzw. dem Sluggish cognitive Tempo-Typ.
Und leider scheint es eben auch so zu sein, dass die Diagnose-Stellung noch lange nicht bedeutet, dass dann auch eine fachgerechte, d.h. leitlinien-orientierte multimodale bzw. multiprofessionelle Behandlung der ADHS- und Begleit- und Folgesymptome erfolgt.
Auswirkungen von unbehandeltem ADHS bei Kindern und Jugendlichen |
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Entwicklungsverzögerungen der Motorik, Koordination, Sprache und soziale Anpassung |
Lern- und Teilleistungsstörungen, Schulversagen |
Ausgrenzung / Isolation von Mitschülern |
Vermehrte Konflikte bzw. Stress in der Familie |
Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten / Störungen des Sozialverhaltens |
Problematischer Smartphone / Internet-Konsum bzw. - Abhängigkeit |
Riskantes Sexualverhalten mit sexuell übertragbaren Krankheiten und ungewollten Schwangerschaften |
Vermehrte Unfälle bei riskantem Fahrverhalten |
Vermehrter Nikotin-, Alkohol- und Drogenabusus |
ADHS ist eine lebensverkürzende chronische Erkrankung
Relativ neue Studien belegen, dass ADHS eine lebensverkürzende Erkrankung sein kann, d.h. die Sterblichkeit (Mortalität) ist unter ADHS-Betroffenen höher als unter Menschen einer Kontrollgruppe. Und auch das Auftreten von Unfällen bzw. Unfallfolgen ist ja deutlich erhöht. Nicht zuletzt aus diesen versicherungsmathematischen Gründen ist es ja auch für ADHS-Klienten schwer, eine Lebensversicherung bzw. Unfallversicherungen zu akzeptablen Bedingungen abzuschliessen.
Die Lebensqualität bzw. auch die allgemeine Gesundheit ist genauso stark oder ggf. sogar noch schwerwiegender beeinträchtigt wie es bei sonstigen "chronischen" Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder Asthma bronchiale als typische Erkrankungen mit Beginn im Kindes- und Jugendalter der Fall sein dürfte. Dennoch fehlt aus meiner persönlichen Sicht noch ein Problembewusstsein dafür, wie gravierend die Auswirkungen und letztlich auch die gesellschaftlichen Kosten einer nicht zielführend bzw. ausreichend behandelten ADHS-Spektrum-Problematik sind.
Es ist ja ein Trauerspiel, dass die Leitlinien-Entwicklung (geplante Fertigstellung Sommer 2017) quasi in Deutschland widerspiegelt, dass massgebliche Interessengruppen in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen aus dem ADHS-Spektrum quasi die blosse Existenz des Problems entweder leugnen oder aber wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zur Kenntnis nehmen können / wollen, die sich mit eigenen veralteten Vorstellungen nicht zur Deckung bringen lassen. Wer aber die Existenz von ADHS bzw. die neurobiologischen und neuropsychologischen Grundlagen der Diagnostik und Behandlung nicht akzeptieren kann, wird eben auch keine große Hilfe in der Versorgung der ADHS-Betroffenen sein. Und damit potentiell ebenlangfristigen negativen Auswirkungen für die Betroffenen und ihre Familien mit auslösen.
Wie kommt es zu den negativen gesundheitlichen Auswirkungen ?
Direkte Auswirkungen der ADHS-Symptomatik bzw. Störungen der Impulskontrolle und des Verhaltens aufgrund der ADHS-Konstitution
Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich damit, dass die ADHS-Konstitution bzw. Störungen im Belohnungssystem bzw. der Impulskontrolle bzw. der inneren Bremse (Behaviorale Inhibition) mit einem erhöhten Risiko für Gesundheitsschädigungen z.B. durch Rauchen, impulsives / ungezügeltes Essen (mit der Auswirkung einer Binge-Eating Störung und / oder Adipositas), Alkohol- und Drogenkonsum, Mangel an Sport bzw. gesundheitsförderlichem Verhalten etc.
Auswirkungen von erhöhtem Stress / psychophyiologischem Anspannungsniveau für die Entwicklung und Verstärkung von psychiatrischen Störungen
Im Prinzip (und in der Praxis) wissen wir, dass ADHS mit einer deutlich gesteigerten Wahrscheinlichkeit für andere / begleitende psychiatrische Störungen verbunden ist. Also neben Depressionen besonders häufig Angststörungen (einschliesslich Sozialer Phobie), Zwangsstörungen, aber ebena auch häufiger Bipolare Störungen (manisch-depressive Störungen), Schizophrenie etc.
Soziale Auswirkungen von ADHS-Spektrum-Störungen Bisher nicht berücksichtigt ist dann, dass ADHS eben auch zu einer sozialen Ausgrenzung bzw. mangelnden finanziellen Möglichkeiten führt. Dies wird u.a. dazu beitragen, dass das Leben und die Hilfsmöglichkeiten weit schwieriger sind bzw. weniger Unterstützungs- und Veränderungsmöglichkeiten zur Anpassung an die ADHS-Herausforderungen möglich sind. Hier gilt eben leider - gerade in Deuschland, dass Bildung, Arbeit und Ausbildung sehr stark vom Einkommen abhängig ist und soziale Unterstützung bzw. Hilfestellung eben dann nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt zur Verfügung steht. Salopp ausgedrückt : Gerade die Betroffenen, die am dringensten eine Unterstützung und Therapie benötigen würden, haben die grössten Hürden zu überwinden.
Wenn also ADHS und zusätzliche Lern- und Teilleistungsstörungen zu einer schlechteren Schulkarriere , häufigerem frühen Schulabbruch ohne begabungsadäquatem Schulabschluss bzw. Abbruch von Ausbildungen und häufigeren Kündigungen etc führt, dann werden die Betroffenen über mehrere Generationen eben einen niedrigeren sozio-ökonomischen Status haben, was wiederum zu mehr sozialem Stress bzw. schlechterem Zugang zu den Hilfssystemen führen muss.
Es ist bitter, aber wohl eine Wahrheit : Niedriger Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit bzw. ungerade Lebensläufe und niedrigeres Einkommen beeinträchtigen erheblich die eigene Gesundheit bzw. führen zu Tätigkeiten, die mit höheren gesundheitlichen Belastungen und Risiken verbunden sind. Und damit zu mehr Krankheiten, gehäuften Unfällen und früherem Tod.
Was wurde untersucht ? In der Studie wurden 18 bis 65 jährige Amerikaner in einer Gesundheitsbefragung interviewt, insgesamt wurden über 19000 Betroffene einbezogen
U.a. wurde gefragt, ob ein Unfallereignis in den letzten 3 Monaten vorgefallen ist (Ja / Nein)
Dann wurde nach Gesundheitsproblemen, speziell Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Schlaganfall, Lungenerkrankungen, Astma / COPD bzw. Emphysem gefragt.
Der 3. Bereich bezog sich auf funktionelle Auswirkungen hinsichtlich Mobilität / Selbstständigkeit im Leben. Das bezieht sich darauf, ob man ohne Hilfe selber Gehen, Stehen, Sitzen kann, Arbeiten im Knien oder Bücken oder andere Einschränkungen der Mobilität bestehen.
Dann wurde nach einer subjektiven Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes gefragt
Last but not least ging es dann um die psychische Belastung. Hier wurde ein Fragebogen (K6) eingesetzt, der psychosoziale Belastungen bzw. psychischen Stress abbilden sollte.
Diese Daten wurden dann in Beziehung zu bekannten psychiatrischen Diagosen wie Bipolare Störung, Schizophrenie bzw. Suchtverhalten und sozio-ökonomischem Status gesetzt.
Was sind die Ergebnisse bzw. Auswirkungen von ADHS auf Gesundheit und sozio-ökonomischem Status ?
Erhöhtes Unfallrisiko Eigentlich ist es ja schon bekannt, dass ADHSler häufiger Unfälle haben bzw. in den Notaufnahmen Stammgast sind. Dies zeigte sich auch in der Untersuchung, da etwa 8,2 Prozent in den letzten 3 Monaten ein Unfallereignis hatten, dagegen nur 2,6 Prozent der Kontrollgruppe).
Körperliche Begleiterkrankungen Auch Herzkreislauferkrankungen bzw. Lungenerkrankungen waren in der ADHS-Gruppe leicht erhöht (möglicherweise gibt es hier einen Zusammenhang zum Rauchen ?), auch wenn die Unterschiede nun nicht so riesig sind (15,8 Prozent in der ADHS-Gruppe, 12,2 Prozent in der Kontrollgruppe)
Funktionelle Auswirkungen Hier waren deutlich stärkere Auswirkungen auf die Mobilität bzw. Teilhabe im Leben zu finden (42 Prozent, versus 26 Prozent). Hier müsste man nochmal genauer schauen, wie genau diese Einschränkungen der Teilhabe eigentlich zu verstehen sind. Dazu sagt die Studie aus meiner Sicht so wenig aus
Subjektiver Gesundheitszustand ADHSler schätzten in der Untersuchung ihren eigenen Gesundheitszustand deutlich schlechter ein (20,4 berichteten von einem miesen Gesundheitszustand, im Vergleich zu 11 Prozent der Nicht-ADHSler)
Psychosozialer Stress
Während unter 3 Prozent der Kontroll-Gruppe unter psychischem Stress klagten, waren es 4 mal so viele ADHSler (11,8)
Psychiatrische Erkrankungen und ADHS
Im Vergleich zu Nicht-Adhslern weisen ADHS-Betroffene im Erwachsenenalter ein deutlich erhöhtes Risiko für Bipolare Störungen (12,4 % gegenüber 1,8 %). Dabei bin ich persönlich mir nicht sicher, ob da eine saubere Trennung zur affektiven Labilität bzw. Stimmungsschwankungen bei ADHS vorgenommen werden konnte. Aber auch Psychosen/Manien sind deutlich erhöht (6,3 versus 0,6) und auch eine diagnostizierte Schizophrenie ist stark erhöht (4,0 gegenüber 0,6 in der Kontrollgruppe ohne ADHS).
Suchtverhalten / Selbstmedikation bei ADHS ADHS-Klienten in der Untersuchung waren fast doppelt so häufig Raucher (44 versus 22 Prozent) (was man ja als eine ungünstige Form der Selbstmedikation eines Dopamin-Mangels verstehen könnte) bzw. wiesen ein problematisches Alkoholverhalten auf.
Armutsrisiko und ADHS
In der Studie zeigte sich dann auch, dass die soziale Lage von ADHSlern deutlich schlechter als in der Kontrollgruppe war. Viele ADHSler waren entweder nie verheiratet bzw. in einer festen Beziehung oder aber geschieden. Sie waren häufiger arbeitslos bzw. eben aktuell nicht in einem festen Job. Daraus resultieren erhebliche finanzielle Probleme, so dass sie sich eben auch häufig überhaupt keine regelmässige medizinische Krankenversicherung bzw. Zugang zu medizinischen und psychotherapeutischen Hilfsangeboten oder auch nur einer ADHS-Medikation leisten konnten.
Somit verstärken sich die Auswirkungen von ADHS über das Leben bzw. werden eben auch für die folgenden Generationen zu Auswirkungen führen, da ADHS-Kinder dann eben auch wiederum nicht Zugang zu medizinischen und psychotherapeutischen Hilfen oder einer gezielten Förderung von Lern- und Teilleistungsstörungen haben werden. Der Teufelskreis von ADHS und ADHS-Folgestörungen wird also immer weiter fortgesetzt.
Quelle : Self reported ADHD and Adult Health in the United States DOI: 10.1177/1087054718757648