Liebe Leser und Architekturfreunde,
heute geht es um ein besonderes Werk des Wiener Jugendstils, die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof. Sie wurde hier schon einmal sehr schön dargestellt (es war übrigens der allerletzte Post von @vieanna, danach hat sie sich zurückgezogen von Hive). Trotzdem möchte ich Euch diese Jugendstil-Ikone noch einmal vorstellen, und mehr über den seltsamen und geschichtsträchtigen Ort schreiben, der bei den Wienern nur unter "Steinhof" bekannt ist.
Von weithin zu sehen, ist die goldene Kuppel der Kirche ein Wahrzeichen im Westen Wiens. Hier die Aussicht von der Raimannstraße, während man auf die sog. "Baumgartner Höhe" hinauffährt.
Doch bevor man sie erreicht, muss man erst des Gelände des ehemaligen Sanatoriums und Spitals, das heute Otto Wagner Areal heißt, betreten, an dessen höchsten Punkt die Kirche thront.
Das unter Denkmalschutz stehende Areal ist sehr weitläufig, ca. 100ha groß, mit 26 freistehenden Pavillons und Nebengebäuden, alle im Jugendstil gehalten und entworfen von Carlo von Boog und Franz Berger. Von 1907 bis 1916 gab es in den westlichen Pavillions ein (Lungen-)Sanatorium für zahlendes Klientel (ähnlich wie das im "Zauberberg" von Thomas Mann beschriebene), mit Wintergärten mit Palmen, Kegelbahnen, Schwimmbecken, Schlittschuhbahn und Tennisplatz. Danach war es die "Lungenheilstätte Baumgartner Höhe", heute "Klinik Penzing" genannt. Im größeren östlichen Teil war dagegen eine Psychiatrie untergebracht - 1907 war es die größte und modernste Europas! Entlang der Mittelachse waren die Pavillons in Frauen- und Männerabteilungen geteilt. Man wollte schließlich nicht, dass sich die "Irren" vermehren (Quelle). Wenn ein Wiener sagt, "der gehört nach Steinhof", meint er daher, die betreffende Person sei nicht ganz richtig im Kopf!
Karte des Otto Wagner Areals:
https://www.owa-wien.at/
Oberhalb des Direktionspavillons, der im vorigen Bild zu sehen war, befindet sich das ehemalige "Gesellschaftshaus", in dem kulturelle Veranstaltungen für die Sanatoriumspatienten stattfanden.
Nach dem 2.Weltkrieg wurde es als "Jugendstiltheater" fortgeführt und nach einer längeren Stilllegung und Renovierung wird es auch heute wieder bespielt, wenn auch seltener als früher.
Unterhalb des Theaters befindet sich das 2003 errichtete Mahnmal für die Opfer des "Spiegelgrunds".
772 Licht-Stelen erinnern an die Kinder und Jugendlichen, die in den Jahren 1940 bis 1945 in der nationalsozialistischen Euthanasie-Anstalt „Am Spiegelgrund“ ermordet wurden, eines der düstersten Kapitel in der jüngeren Geschichte Wiens.
Pavillon 15, einer der Pavillons des "Spiegelgrunds". Hier wurden 1940 psychiatrische Patienten ausquartiert (und ein Großteil davon ermordet) und verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche (bzw. Insassen anderer Jugendpsychiatrien aus ganz Österreich) untergebracht.
Eine Diagnose "bildungsunfähig" oder "arbeitsunfähig" glich einem Todesurteil. Hier wurden Euthanasien durchgeführt (mit Medikamenten bzw. Giftspritzen), auch an Kindern unter 3 Jahren(!), Zwangssterilisierungen und medizinische Experimente. Den Eltern präsentierte man gefälschte Krankheitsgeschichten, Todesursache war meist "Lungenentzündung". Einer der ärztlichen Leiter wurde nach 1945 hingerichet, viele andere Beteiligte aber wurden nicht einmal angeklagt.
Geht man weiter hinauf im Areal, kann man endlich die Kirche durch den Wald erkennen.
Die röm.-katholische Kirche am Steinhof (bzw. Kirche zum Heiligen Leopold) wurde 1904 bis 1907 erbaut und gilt heute als eines der bedeutendsten Bauwerke des Wiener Jugendstils. Sie war die erste moderne Kirche Europas. Wagner war seiner Zeit voraus, so sehr, dass er damit das Kaiserhaus und die Kirche vor den Kopf stieß!
Vor ca. 35 Jahren, als ich das erste Mal hier auf dieser Bank vor der Kirche gesessen bin, konnte man noch zum Teil auf den Westen Wiens sehen, mittlerweile haben Bäume die Sicht versperrt.
Von 2002 bis 2006 wurde sie (für 11,6 Mio.) Euro generalsaniert, dabei wurde die kreisrunde Kuppel neu mit 2kg(!) Blattgold überzogen und die Fassade aus Carrara-Marmor komplett ausgetauscht.
Südseite mit dem Eingangsportal und einem Schutzdach aus Eisen.
Die vier Säulen werden von betenden Engelsfiguren des Bildhauers Othmar Schimkowitz bekrönt.
An der Spitze der beiden Glockentürme sitzen westlich der hl. Leopold (Schutzpatron Niederösterreichs, siehe Bild) und im Osten der Prediger Severin, geschaffen von Richard Luksch.
In der Hand hält er das Landeswappen Niederösterreichs, allerdings nicht mit den 5 gelben Adlern auf blauem Grund (wie seit 1954 erst endgültig festgelegt wurde), sondern noch mit 5 blauen Adlern auf gelben (bzw. goldenen) Grund. Niederösterreich deshalb, weil 1907 das Spital zu diesem Bundesland gehört hatte und erst 1920 Teil des Wiener Stadtgebietes wurde.
Detail des Fassadenfrieses unter dem Sims mit Kreuzen und Lorbeerkränzen, ein beliebtes Motiv bei Otto Wagner.
Die dünnen Marmorplatten wurden mit kupferüberzogenen Bolzen befestigt, ähnlich wie bei der Postsparkasse, die aber gleichzeitig auch ein dekoratives Element bilden.
Das Innere ist hell und lichtdurchflutet durch die weiß-goldenen Wände und die großen Fenster.
Die Kirche war ursprünglich nur für die Insassen bzw. das Personal vorgesehen und ist heute ein Museum und Gotteshaus für alle. Messen finden aber nur in unregelmäßigen Abständen statt.
Eine Gedenktafel erinnert an die Schlusssteinlegung im Jahr 1907, wodurch der Bau der "Nervenheilanstalt" abgeschlossen wurde.
Einzigartig sind die Glasmosaikfenster nach Entwürfen von Koloman Moser. Das westliche zeigt die 7 leiblichen Werke der Barmherzigkeit.
Das östliche zeigt die 7 geistigen Werke der Barmherzigkeit.
Bemerkenswert auch das 4 Tonnen schwere Mosaik hinter dem Hochaltar aus Glas, Keramik und Marmor von Leopold Forstner, das erst 1913 vollendet wurde. Eigentlich hatte auch dafür Kolo Moser den Entwurf gefertigt, doch die Kirche weigerte sich trotz Fürsprache von Otto Wagner, ihm den Auftrag zu erteilen, da er im Zuge seiner Hochzeit mit Editha Mautner von Markhof 1905 zum Protestantismus konvertiert war.
Dargestellt ist die "Verheißung des Himmels" mit dem segnenden Christus in der Mitte und zahlreichen Heiligen und Fürsprechern, unter anderem auch die Hl. Dyphna mit dem Schwert (5.Person v.l.), die Schutzheilige der Geisteskranken, und andere Heilige im Zusammenhang mit Gesundheit.
Die Mosaike der Seitenaltäre wurden von Rudolf Jettmar enworfen, das rechte zeigt eine Mutter mit Kindern und Schutzengel.
Das linke stellt die Verkündigung Mariens dar.
Otto Wagner hatte großen Wert auf die Funktionalität und die Bedürfnisse von Spitalsinsassen gelegt und die Kirche mit einem Arztzimmer, Toiletten und Notausgängen ausgestattet. Die Kirchenstühle hatten wegen Verletzungsgefahr keine scharfen Ecken und waren auch kürzer, um im Bedarfsfall schneller Zugriff auf einzelne Patienten zu haben. Das leichte Gefälle des Bodenniveaus zum Altarbereich hin (30cm) erleichtert die Sicht auf den Altar. Der dadurch schräge und angeblich mit Wasserablaufrinnen (die sind mir aber nicht aufgefallen) durchzogene Boden und die bis auf 3m Höhe mit glatt polierten Marmorplatten verkleideten Wände erleichtern die Reinigung des Raumes. Auf Darstellung der Kreuzigung oder des Kreuzweges wurde verzichtet, aus Furcht, dass diese Aggressionen auslösen könnten.
Die Kanzel ist aus Sicherheitsgründen nur von der Sakristei aus erreichbar und nicht für die Patienten zugänglich. Sie besteht aus getriebenem Metall.
Ein absolutes Novum waren die vier Leuchter in Form von stilisierten hängenden Blüten, die von Anfang an für den elektrischen Betrieb vorgesehen waren. Sie können zu Wartungszwecken ohne großen Aufwand heruntergelassen werden.
Revolutionär waren insbesondere die beiden Weihwasserbecken. Um die Gefahr von Infektionen zu verringern, sind sie als Brunnen mit Wasserspender ausgeführt, wobei das herabtropfende Weihwasser von zwei in der Orgelempore untergebrachten 70l-Tanks gespeist wird. Das Wasser floss nur bei Berührung eines Ventils.
Leider war das zu innovativ für die Kirche, sodass die Becken in der ursprünglich geplanten Form nie in Betrieb gingen.
Nicht nur der Kirche war der Bau insgesamt zu "modern", auch Erzherzog Franz Ferdinand hatte erheblichen Mißfallen daran (er erwähnte Otto Wagner in seiner Eröffnungsrede mit keinem Wort), und so bekam Otto Wagner vom Kaiserhaus keine Aufträge mehr. Wie sich die Sicht auf die Dinge mit der Zeit doch ändert...
Kirche am Steinhof: https://www.wienmuseum.at/otto_wagner_kirche_am_steinhof 1140 Wien, Baumgartner Höhe 1 Öffnungszeiten: Di.-Fr. 10h-17h, Sa. 14h-17h, So. 11h-17h Ticket: 5€
All pics by @stayoutoftherz
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