Ötzi, der Mann aus dem Eis

@stayoutoftherz · 2025-07-27 09:02 · Deutsch D-A-CH

english summary: Ötzi, the 1991 discovered Iceman from the Copper Age, what we know about him, his equipment, his last days and his murder. Recent findings partially contradict earlier assumptions!

Liebe Leser,

die Geschichte des "Ötzi", des Mannes aus dem Eis, eine der ältesten vollständig erhaltenen Mumien der Welt, ist wahrlich eine unglaublich spannende - voller Zufälle, interessanter Erkenntnisse über unsere Vorfahren, aber auch immer noch ungeklärter Rätsel!
Nachdem wir im Ötztal waren, hat sich angesichts schlechten Wetters eine Fahrt ins schöne (und warme) Bozen, wo Ötzi heute seine letzte "Ruhestätte" gefunden hat, regelrecht aufgedrängt.

Die kurvenreiche Fahrt führt über die Mautstraße am Timmelsjoch auf 2509m Höhe, wo aus unerfindlichen Gründen immer Scharen an Bikern anzutreffen sind.
Eines der Denkmäler am Timmelsjoch, an der Grenze zwischen Tirol und Südtirol weist auf diese politische Trennung hin.
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Aber ich schweife etwas ab, jedenfalls ist Bozen an sich eine Reise (und einen eigenen Post) wert. Ich hatte z.B. vorher nicht gewusst, dass dort ein Denkmal Walther von der Vogelweide (1170-1230) gewidmet ist, dem größten deutschsprachigen Lyriker des Mittelalters.
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Aber jetzt endgültig zurück zu Ötzi:

Der Fund

Am Do., dem 19. September 1991, einem ungewöhnlich milden Herbsttag, fiel den Hobbyalpinisten Erika und Helmut Simon aus Nürnberg gegen 13.30h in den Ötztaler Alpen zwischen Finailspitze und Similaun beim Tisenjoch auf 3210m Höhe etwas seltsames Braunes auf, das aus dem Eis ragte. An dieser Stelle war das Gletschereis nur noch 60-80cm dick. Helmut Simon machte das erste Foto von der Gletschermumie, die sie zunächst für einen verunglückten Bergsteiger hielten.
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https://www.spiegel.de/geschichte/oetzi-fund-1991-die-finder-und-der-fluch-der-mumie-a-1111898.html

Sie waren nur durch Zufall dort, weil sie, von der Finailspitze kommend, den markierten Wanderweg verlassen hatten, um einen schnelleren Abstieg zu suchen. Durch den warmen Sommer 1991 und einen kürzlichen Sturm, der Saharastaub mitbrachte (wie es alle paar Jahrzehnte in Österreich passiert, selbst erlebt) und dadurch die Abschmelzung beschleunigt wurde (dünklere Oberfläche->weniger Albedo), hatte das Eis die Mumie freigegeben, die 5300 Jahre darin nahezu perfekt konserviert war.

Livecam von der Fundstelle.
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Eine Stunde später waren sie in der Similaunhütte angekommen und berichteten von ihrem Fund. Noch am gleichen Tag besuchte der Hüttenwirt die Fundstelle und fand in der Umgebung der Leiche mehrere Fellreste, Hölzer und Schnüre.
Am nächsten Tag fand dann der erste Bergungsversuch statt, der allerdings scheiterte, da die Mumie zu fest im Eis steckte und sich das Wetter verschlechterte.
Am Samstag stand kein Hubschrauber zur Verfügung, es kam aber der Bergsteiger Reinhold Messner zur Fundstelle, der zufälligerweise ebenfalls in der Similaunhütte war und durch die Diskussionen dort neugierig geworden war. Messner schätzte als Erster auch aufgrund des gefundenen Beils die Leiche auf mindestens 500 Jahre alt, "wenn nicht sogar 3000 Jahre". Am Vortag hatte man noch vermutet, sie sei nicht älter als 100 Jahre oder es sei ein "Deserteur aus dem 1. Weltkrieg".
Erst am Montag gelingt die Bergung, leider entstanden dadurch einige Verletzungen an der Leiche (beide Arme wurden gebrochen) und an den Ausrüstungsgegenständen (z.B. wurde der Bogen abgebrochen und der noch im Eis feststeckende untere Teil erst später geborgen). Es war kein Archäologe anwesend, der die Lage der Beifunde hätte dokumentieren können, stattdessen war mit dem Hubschrauber ein ORF-Team gekommen, sodass die Bergung live übertragen wurde. Ötzi wurde in die gerichtsmedizinische Abteilung der Universität Innsbruck geflogen (damals dachte man noch, Ötzi wäre auf der österreichischen Seite gefunden worden).
Am Dienstag morgen wurde dann erstmals ein Archäologe, Prof. Konrad Spindler vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Uni Innsbruck hinzugezogen, der rasch das Alter der Mumie auf mindestens 4000 Jahre schätze - was er auch in einer Pressekonferenz noch am gleichen Tag kundtat - damit war die archäologische Sensation perfekt!
Eine genau Altersbestimmung durch Gewebeuntersuchungen mit der Radiokarbon-Methode in Laboren in Zürich und Oxford wurde erst im Jänner 1992 veröffentlicht: Ötzi starb vor 5380-5130 Jahren! Er lebte also zwischen 3350 und 3100 vor Christus! In Europa ist keine Mumie dieses Alters bekannt. Und eine Mumie mit dieser kompletten Ausrüstung (siehe unten) ist weltweit einzigartig!

Der Name

Insgesamt zirkulierten angeblich 500 Namen für Ötzi, von "Der Mann aus dem Eis", "Mann vom Hauslabjoch", "Mann vom Tisenjoch", bis zu weit exotischeren wie "Schnalsi" oder "Homo tirolensis". Im englischsprachigen Raum wird er auch "Iceman" oder "Frozen Fritz" genannt, aber der Name Ötzi setzte sich rasch durch: Kurz, prägnant, verniedlichend! Erfunden wurde er vom Wiener Journalisten Karl Wendl und erstmals tauchte er in der Arbeiter-Zeitung vom 26. September 1991 auf. Wendl wurde inspiriert vom Begriff des Schneemenschen "Yeti". Auch das >3 Mio. Jahre alte Teilskelett einer Australopithecus afarensis-Frau wurde "Lucy" genannt, offenbar ein Muster in der Namensgebung. Eine 1995 ebenfalls in einem Gletscher in Peru auf 5000m Höhe entdeckte, ca. 600 Jahre alte Inka-Mumie wurde unter dem Namen "Juanita" bekannt. Wie bei Ötzi war der Gletscher in diesem Fall durch die Asche eines nahen Vulkanausbruchs aufgeschmolzen worden. Im Gegensatz zu Ötzis unklaren Todesumständen (siehe unten) war dieses 12-15 Jahre altes Mädchen offenbar dem Berg Ampato rituell geopfert worden.


Während Ötzi zunächst in Innsbruck untersucht worden war, ist er seit 1998 im speziell für ihn adaptierten Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen zu bestaunen. Genaue Messungen hatten nämlich ergeben, dass Ötzi 92m jenseits der Grenze auf der italienischen Seite gelegen hatte. Auch das ein kurioser Zufall. Bei der Grenzziehung (1922, nach der Annexion Südtirols durch Italien) lag an dieser Stelle 20m hoch Schnee/Eis, sodass man die Wasserscheide, welche als Grenze festgelegt war, gar nicht erkennen konnte. Deshalb wurde die Grenzlinie „falsch“ gezogen. Sie ist aber trotzdem völkerrechtlich gültig!

Ötzi wird in einer klimatisierten Kammer gelagert, auf einer Präzisionswaage, mit einem (kleinen) Sichtfenster für die Besucher. Mit −6°C und 99 % Luftfeuchtigkeit sollen die Bedingungen im Inneren des Gletschers möglichst gut imitiert werden. Da die Mumie trotzdem jeden Tag rund 5g Gramm Wasser verliert, wird in der Kammer alle 3 Monate ein feiner, steriler Wassernebel versprüht, der teilweise in die Haut dringt und darauf eine dünne Eisschicht bildet (was das "Glänzen" von Ötzis Haut erklärt). Noch in Planung ist ein Verfahren, bei dem die Atmosphäre durch reinen Stickstoff ersetzt wird, was das Wachstum aerober Bakterien verhindern würde und Radikale, welche die Mumie angreifen könnten, aus der Umgebung entfernt.

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Die Kleidung und Ausrüstung

Ötzi hatte eine Mütze aus Braunbärenfell, die erst 2022 bei einer Nachgrabung gefunden worden war (sie war in einem tieferen Teil der Gletscherrinne gelandet und ist daher besonders gut erhalten).
Durch 2 Lederriemen konnte die Mütze unter dem Kinn zusammengebunden werden.

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Seine Schuhe waren hochfunktionell und an das alpine Klima angepasst!
Der Außenschuh bestand aus Hirschleder (mit der Haarseite nach außen), der Innenschuh aus einem Netz aus Lindenbastschnüren (links im Bild), beide waren mit Lederriemen an der Sohle befestigt und wurden oben mit "Schnürsenkeln" aus Rindsleder verschlossen. Zwischen dem Geflecht des Innenschuhs und dem Schaftleder war trockenes Süßgras gestopft als Polster und Isolierschicht. Die Ledersohle zeigte mit der Haarseite nach innen, an ihrer Unterseite waren sich überkreuzende Lederriemen angebracht - Ötzi trug Schuhe mit Profilsohlen! Die Art der Schuhe zeugt von der hohen Kunstfertigkeit der Kupferzeitmenschen. Rekonstruktionen zeigten, dass die Schuhe erstaunlich warm und bequem waren. Für Regen waren sie aber wenig geeignet, da Wasser sofort eindrang.
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Daneben hatte er noch einen (ziemlich abgetragenen) Mantel aus Ziegen- und Schaffell (jeweils Streifen aus hellem und dunklem Fell kunstfertig vernäht), Beinkleider (zwei getrennte Beinröhren aus Ziegenfell, mit "Strapsen" zur Befestigung am Gürtel und Laschen zur Fixierung an den Schuhen), einen Lederschurz aus dünnen, weichen Streifen aus Schafleder und einen Gürtel aus Kalbsleder (mit dem der Lendenschurz befestigt wurde) mit einer Gürteltasche, die folgende Ausrüstungsgegenstände enthielt: Einen Klingenkratzer, das Bruchstück einer Klinge, und einen Bohrer aus Feuerstein, einen Zunderschwamm und Spuren von Pyrit zum Feuer machen und eine ca. 7cm lange Knochenahle (ein Universalwerkzeug zum Nähen, als Zahnstocher, etc. ).

Überhaupt ist die Komplettheit seiner Ausrüstung verblüffend, die auf einen hohen sozialen Status hinweist, insbesondere durch das Kupferbeil, von dem man ausgeht, dass es etwas Besonderes war - Rangabzeichen, Statussymbol, Werkzeug (man fand Gebrauchsspuren, die auf Holzbearbeitung hindeuten) oder auch Waffe?

Es ist auch für uns heute etwas Besonderes, da es das einzige, vollständig erhaltene Beil aus der Kupferzeit ist! Der 60cm lange Schaft ist aus Eibenholz geschnitzt, das Kupfer ist sehr rein (99,7%) mit Anteilen von Silber und Arsen. Das Kupfer stammt laut Blei-Isotopenvergleichen aus der südlichen Toskana, was auf beachtliche Handelsbeziehungen von Ötzis Gruppe/Clan hinweist. Die Klinge wurde gegossen, am Rand gehämmert und geschliffen, und mit Birkenpech und Lederriemen am Schaft befestigt.
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Durch diesen Fund wissen wir, dass die Kupferzeit im Alpenraum 1000 Jahre früher begonnen hat als ursprünglich angenommen. Die Zeit um 3200 v.Chr. galt bislang als Jungsteinzeit.

Ötzi hatte auch einen ca. 13cm langen Dolch mit einer Klinge aus Silex (Feuerstein) und einem Griff aus Eschenholz. Die Klinge wurde tief in den gespaltenen Holzgriff geschoben und mit Tiersehnen fixiert. Das Griffende hatte eine Kerbe, in der eine Schnur befestigt war.
Die 12cm lange Scheide aus Lindenbast ist sehr fein und sorgfältig verarbeitet, mit einer Lederöse, sodass sie am Gürtel befestigt werden konnte.
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Zum Zeitpunkt des Todes hatte Ötzi den Dolch in der Hand gehalten, erst bei der Bergung entdeckte man das Messer dort.

Er hatte außerdem einen aufwändig verarbeiteten Köcher aus Rehfell und 14 Pfeile, 12 Rohschäfte (aus Ästen vom Wolligen Schneeball) und 2 schußbereite, mit Spitzen aus Feuerstein (rechts im Bild), die mit Birkenpech und Pflanzenfäden fixiert waren, und am anderen Schaftende mit einer dreiteiligen radialen Befiederung zur Stabilisierung der Flugbahn!
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Archäotechniker konnten zeigen anhand der Steigung der Umwicklungen der Befiederung, dass die Befiederung der beiden Pfeile nicht von der gleichen Person angefertigt worden war, der eine musste Linkshänder, der andere Rechtshänder sein!

Daneben hatte er auch einen 182cm langen Bogen aus Eibenholz (das ideal für Bögen ist), der vermutlich unfertig war. Der Schaft war noch nicht geglättet und es fehlen Kerben zur Befestigung der Sehne (eine Vermutung, denn es gibt auch Beispiele für Bögen, deren Sehen ohne Kerben befestigt werden). Die zu einem Bogen passende Schnur (kunstvoll gedrillt aus Tiersehnen) von 2m Länge wurde im Köcher gefunden.

Das ist aber noch nicht alles, er hatte außerdem eine hölzerne Rückentrage ("Kraxe"), ein Grasgeflecht (dessen Zweck unklar ist, eventuell ein Regenschutz oder Teil der Rückentrage), ein Netz, einen "Hühnergalgen", 2 Birkenrindengefäße, von denen eines zur Aufbewahrung von Glutresten diente (so vermutet man aufgrund der schwärzlichen Verfärbung der Innenwand), eine Art "Bleistift" zur Bearbeitung von Feuersteinklingen, Retuscheur genannt, und sogar eine "Reiseapotheke" in Form von Birkenporlingen, die antibiotisch und blutstillend wirken!

Insgesamt hatte er Gegenstände von 18(!) verschiedenen Holzarten und rund einem halben Dutzend Tierarten bei sich! Die Menschen waren damals offenbar extrem gut angepasst und wussten genau, wofür sich welches Material am besten eignet. Und das ohne jede schriftliche Überlieferungen! Zu gern wüsste ich, in welcher Sprache sich Ötzi verständigt hat! Leider ist dieses praktische Wissen über die Jahrtausende größtenteils verlorengegangen (und bestenfalls noch wenigen Archäologen und Spezialisten bekannt).

Anatomie / Pathologie

Ötzi war zum Zeitpunkt seines Todes (laut Untersuchung der Osteonen in seinen Oberschenkelknochen) 45-46 Jahre alt (±5 Jahre), was für die damaligen Verhältnisse ein stattliches Alter war! Zu Lebzeiten war er ca. 1,60 m groß (als Mumie ist er jetzt auf 1,56m geschrumpft), seine Schuhgröße war ca. 38, was dem Durchschnitt der Bevölkerung seiner Zeit entsprach. Man schätzt das Gewicht von Ötzi zu Lebzeiten auf etwa 50 kg (die Mumie wiegt heute nur 13 kg). Er hatte kaum Unterfettgewebe, hatte wohl also eine sehr sportliche Figur. Aufgrund der Unterschenkelknochen kann man schließen, dass er eine stark entwickelte Beinmuskulatur hatte.
Obwohl sich Ötzi´s Epidermis postmortal abgelöst hatte, fand man am Fundort menschliche Haare. Er hatte deutlich längere Haare als 9cm, dunkelbraun bis schwarz, wellig und vermutlich offen getragen. Auch trug er vermutlich einen Bart. Der Bleigehalt seiner Haare ist deutlich geringer als der heutiger Menschen! Dafür ist der Arsengehalt wesentlich höher. Arsen entsteht bei der Verhüttung von Metallen, eventuell war er bei der Gewinnung von Kupfer in Schmelzöfen beteiligt oder zumindest anwesend. Das Innere seiner Lunge ist, wohl aufgrund der häufigen Aufenthalte an offenen Feuerstellen, rußgeschwärzt. Von seiner DNA wissen wir, dass seine Augenfarbe braun war, er Blutgruppe 0 hatte und laktose-intolerant war. Ötzi war Rechtshänder und (entgegen früherer Vermutungen) kein Vegetarier.

Die holländischen Zwillinge Kennis&Kennis haben eine moderne, anatomisch genaue Rekonstruktion von Ötzi erstellt. Er wirkt älter als ein heute 46-Jähriger.
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Der Abnutzungsgrad seiner Gelenke ist für sein Lebensalter relativ gering (selbst heutige südtiroler Bauern haben in diesem Alter stärker abgenutzte Gelenke) - erneut ein Hinweis auf seine hohe soziale Stellung. Er hatte eine leichte Arthrose in der Wirbelsäule und an der rechten Schulter. Sein rechtes Knie ist stark abgenutzt. Seine Blutgefäße sind verkalkt, auch in den Herzkranzgefäßen (ein interessanter Befund, gilt das doch als "Zivilisationserkrankung"!). Zu Lebzeiten hatte Ötzi diverse Brüche erlitten, darunter einen Serienrippenbruch und einen Nasenbeinbruch, die aber gut verheilt waren.
Seine Zähne waren stark abgenutzt, was – wie damals üblich – auf Getreide als Nahrung hindeutet, das damals abgeriebene Partikel von Mahlsteinen enthielt. Er hatte Karies und eine Parodontitis. Isotopenanalysen aus dem Zahnschmelz ergaben, dass Ötzi im Eisacktal aufgewachsen ist. Er war also tatsächlich ein Südtiroler.

Ötzi hatte insgesamt 61 Tätowierungen, oft in Gruppen von mehrere parallelen Linien an verschiedenen Stellen des Körpers angeordnet, wie z.B. hier links der Lendenwirbelsäule.
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Es handelt sich um eine der ältesten bekannten Tätowierungen der Welt! Sie entstanden nicht durch Nadeln (wie heute meist), sondern durch feine Schnitte, in die pulverisierte Holzkohle eingerieben wurde.
Man nimmt an, dass diese Tätowierungen primär als Schmerztherapie gedient hatten, da sie an stark beanspruchten Stellen von Ötzis Körper zu finden sind. Die Lage der Tattoos auf den noch heute gültigen Haupt-Akupunkturlinien unterstützt diese Theorie.

Weitere Analysen ergaben, dass in Ötzis Genom Spuren von Borrelien sind (von Zecken übertragene Bakterien). Läuse hatte er keine, aber man fand in seiner Kleidung 2 Menschenflöhe. In seinem Darm fand man die Eier des Peitschenwurms, eines Darmparasiten, der (bei starkem Befall) Durchfall und Blutungen verursachen kann, und unter dem auch heute noch 750 Mio. Menschen leiden, vor allem in den Tropen und Subtropen (dort besser kein rohes Gemüse essen!). Ötzi hatte auch 3 Gallensteine. In seinem Magen (den man erst 20 Jahre nach Ötzis Entdeckung fand, weil er so weit nach oben verschoben war) war voll unverdauter Nahrung und es befand sich das Magenbakterium Helicobacter pylori darin, das auch heute noch weitverbreitet ist. Er dürfte also auch Magenbeschwerden gehabt haben (eventuell daher der mitgeführte Birkenporling).

Trotz all dieser Funde und Erkenntnisse bleibt unklar, wer Ötzi war. Da man weder Handelsware noch Ritualobjekte gefunden hat, ist unwahrscheinlich, dass er Händler oder Schamane war, wie manche behaupteten. Etwaige Gegenstände (oder Viehherden) könnten ihm aber auch von seinen Mördern gestohlen worden sein. Er scheint zumindest Jäger gewesen zu sein, aber ob er das "hauptberuflich" war oder nur als Teil seiner anderen Tätigkeiten jagte, bleibt offen. Vieles spricht dafür, dass Ötzi einen höheren Rang innerhalb der (bäuerlichen) Gemeinschaft hatte, eventuell Clan-Chef. Wieso bäuerlich? Laut einer neueren Analyse aus 2023 ist Ötzi´s Genom zu 91 Prozent mit dem der frühen europäischen Ackerbauern (die ab 7000 v.Chr. die Landwirtschaft aus Asien nach Europa brachten) ident. Nur 9% seines Erbguts passen zu den ersten anatomisch modernen Menschen Westeuropas (die Jäger und Sammler waren).

Seine letzten Tage

Anhand mit der Nahrung aufgenommener Pollen und Moose, die man aus seinem Magen isoliert hat, wird vermutet, dass Ötzi in den letzten Tagen noch weite Strecken - zwischen verschiedenen Vegetationszonen - zurücklegt hatte. Aus den Pollenarten und den Ahornblätter in den Birkenrindengefäßen konnte man auch schließen, dass es im Frühsommer, eventuell Juni, gewesen sein musste. Er war offenbar lange Wanderungen und Berganstiege gewohnt, es ist davon auszugehen, dass er die Gegend kannte und den Alpenhauptkamm an dieser Stelle schon öfter überquert hatte. Zunächst hielt er sich im Bereich der Baumgrenze auf (damals bei ca. 2400m, heute ca. 1800–2100m). Er stieg dann entweder in das Schnals- oder Etschtal ab und etwa sechs Stunden vor seinem Tod wieder hinauf in Richtung Tisenjoch, was zu dieser Jahreszeit schneefrei war. War er auf der Flucht? Eine Stunde vor seinem Tod hatte er eine Rast gemacht und eine Mahlzeit eingenommen - Einkorn (ein Vorläufer von Dinkel und Weizen) und auch geräuchertes Fleisch vom Rothirsch und Alpensteinbock. Möglicherweise hatten sich während dieser Rast Verfolger angeschlichen und ihn dort, in der Felsmulde am Tisenjoch überrascht.

Erst 2001 wurde nach neuen Röntgenaufnahmen eine Pfeilwunde entdeckt. Jemand hatte Ötzi von hinten angeschossen, vermutlich aus größerer Entfernung (>20m), da der Pfeil den Körper sonst durchschlagen hätte. Der Pfeil hatte das linke Schulterblatt durchbohrt und eine tödliche Verletzung der linken Arteria subclavia bewirkt (die den Arm versorgt). Den Schaft hat Ötzi selbst herausgezogen oder sein Mörder, die Pfeilspitze hat sich dabei gelöst, ist aber 6mm vom Gefäß entfernt steckengeblieben, vom Schaft fand man keine Spur. Insg. ist die Arteria subclavia auf einer Breite von 13mm aufgerissen, wie im CT nachgewiesen wurde. Im umliegenden Gewebe ist entsprechend auch ein großes Hämatom zu erkennen. Ötzi wäre sicher an der Pfeilwunde verblutet, aber er hatte auch eine Schädelfraktur zwischen Jochbein und Stirnbein, mit Schädel-Hirn-Trauma, das auch eine direkte Todesursache gewesen sein könnte. Es ist unklar, ob das Schädeltrauma durch einen Sturz infolge des Pfeilschusses erfolgte oder durch einen Schlag auf den Kopf. Gegen einen tödlichen Nahkampf spricht, dass sämtliche, damals sehr wertvolle Ausrüstungsgegenstände, insbesondere das Kupferbeil und der Dolch bei Ötzi blieben und nicht gestohlen worden waren.

Ein wichtiges Indiz ist auch eine tiefe Schnittwunde an der rechten Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger. Ötzi war 1-2 Tage vor seinem Tod offenbar in eine gewalttätige Auseinandersetzung geraten, bei der er an der Hand verletzt wurde und auch Kratzspuren an mehreren Körperstellen davontrug und Abschürfungen und Blutergüsse am Rücken (die unterscheidbar sind von postmortalen Veränderungen durch die Einbettung in den Gletscher). Dieser Konflikt könnte der eigentlich Grund seiner Ermordung gewesen sein. Dass man aber das Blut von "mehreren Menschen" an seinen Ausrüstungsgegenständen fand, wie ursprünglich populär verlautbart ("das Blut seiner Feinde klebte noch an seiner Axt"), wurde durch spätere Untersuchungen widerlegt. Vermutlich hat er aber seinen Bogen verloren (oder eher wurde er zerbrochen, denn die Sehne hatte er im Köcher aufbewahrt) und hatte sich danach einen neuen machen wollen, der aber unfertig blieb.

Zu den Ursachen der tödlichen Auseinandersetzung lässt sich nur spekulieren. Vermutlich wird man die Wahrheit nie herausfinden. Die Museumsbesucher sind jedenfalls eingeladen, zur Lösung dieses Rätsels beizutragen. Manche der an einer Wand verewigten Lösungsvorschläge sind recht bizarr:
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Eine seriösere Theorie könnt Ihr hier nachlesen:
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Quelle
Andere behaupten wieder etwas vollkommen Gegensätzliches: Ötzi sei im Tal gestorben (oder ermordet worden), dort monatelang eingelagert und mumifiziert worden und erst Monate später am Berg beigesetzt worden, mit wertvollen Grabbeigaben. Das erklärt zwar die Anwesenheit des Kupferbeils und der anderen Gegenstände, steht aber im Widerspruch zu den Pollendaten und Moosen aus Ötzis Magen und den frischen Ahornblättern in seinem Birkenrindengefäß. Außerdem war es (in Europa) kaum gängige Praxis (und beschwerlich), eine Leiche bis auf 3200m Höhe zu schleppen. Die Konflikt und Flucht/Hinterhalt-Theorie scheint mir wesentlich plausibler.

Jetzt seit Ihr dran! Stieg Ötzi selbst auf das Tisenjoch, wenn ja, warum, und warum hat man ihn ermordet?

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96tzi
https://www.iceman.it/de/oetzi/ausruestung
https://www.iceman.it/de/oetzi/der-koerper
https://www.nationalgeographic.com/science/article/news-otzi-iceman-food-DNA-diet-meat-fat
https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/germania/article/view/95436/90310
https://www.derstandard.at/1216919057738/aufraeumen-mit-den-oetzi-mythen
https://www.diepresse.com/590076/archaeologie-oetzi-starb-nicht-am-berg
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0223752

Links zu weitergehender Ötzi-Forschung:
https://www.iceman.it/de/forschung/milestones

Südtiroler Archäologiemuseum
Museumstraße 43, Bozen, Südtirol
Dienstag - Sonntag 10-18Uh (im Juli, August und Dezember auch montags offen)
Ticket: 13€, Schüler, Senioren 10€, Kinder <6: gratis

all pics (except no. 3) by @stayoutoftherz

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