Rentiere, so glaubt der Europäer, gibt es nur in Skandinavien. In Nordamerika gibt es die größeren Verwandten, die Karibu. Und in der Mongolei? Kamele, Schafe und Ziegen! Nicht ganz. In der Mongolei gibt es auch Rentiere. Und mit den Rentieren auch ein Nomadenvolk, das mit ihnen lebt: die Tsaatan Rentiernomaden.
Die Tsaatan leben nordwestlich des Khovsgöl Nuur Sees in den Bergen und Tälern zu Russland. Sie nennen sich selbst „Tsaatan“ von Tsaa = Rentier „die mit den Rentieren leben“, stammen aber von den Tuva ab, die im Süden Sibiriens beheimatet sind. Es gibt heute nur noch etwa 40 Familien, beziehungsweise maximal 500 Tsaatan, welche ihre eigene Turksprache sprechen. Die Tsaatan sind vergleichsweise „neu“ in der Mongolei, denn sie siedelten erst 1944 aus Russland über, um den Folgen des 2. Weltkrieges und der Kollektivierung ihrer Tiere im Sozialismus zu entgehen. Seit 1956 haben die Tsaatan mongolische Staatsangehörigkeit. Im Gegensatz zu den mongolischen Nomaden tragen die Tsaatan Frauen zum Beispiel keine Fellmützen, sondern wollene Kopftücher wie Russinnen.
Der größte Unterschied zu allen anderen Völkern, die weltweit mit Rentieren leben ist der, dass die Tsaatan ihre Tiere nicht schlachten und grundsätzlich nur für Milch halten, um daraus Milchprodukte herzustellen. Die aus nordischen Ländern bekannten Rentierfelle und kulinarischen Spezialitäten aus Rentierfleisch existieren in der Mongolei daher nicht. Die Tiere sind für die Nomaden Familienmitglieder, die geachtet und nicht geschlachtet werden. Und das merkt man bei den Tieren sehr!
Im Sommer durchstreifen die Tsaatan die Berge entlang der russischen Grenze, im Winter kommen sie in tieferliegende Gebiete der Mongolei. Das ist dann der richtige Zeitpunkt, um das Nomadenvolk zu besuchen, ohne komplizierte Border-Permits beantragen zu müssen. Und auch recht einfach, denn seit etwa 5 Jahren befinden sich die Wintercamps an immer gleicher Stelle in der Taiga, nordwestlich des Tsaagan Nuur Sees auf 2000m.
[caption id="attachment_1116264" align="aligncenter" width="1024"] created by dji camera[/caption]
Ich hatte letzten Winter in der Mongolei zufällig ein Ehepaar aus Monaco kennengelernt, das die Tsaatan gerade besucht hatte. Wir blieben in Kontakt, trafen uns im Iran wieder und bekamen von den beiden den Kontakt zu einer Tsaatan, welche in den USA gelebt hatte, daher Englisch spricht und einen Besuch bei ihrem Volk organisieren kann. Sie und auch die beiden Reisenden aus Monaco waren überzeugt: die Anreise ist nix für unseren VW Bus „Kittymobil“! So holte uns dann ein „Russenbulli“ ab, der in Russland auch wegen seiner Form „Buchanka“ (Brotlaib) genannt wird. Wir finden sie optisch total knuffig und freuten uns auch darauf, damit unterwegs zu sein.
[caption id="attachment_1116265" align="aligncenter" width="1024"] kein Asphalt, sondern ein See :-)[/caption]
Doch schon auf den ersten Kilometern, noch auf Asphalt, waren wir richtig enttäuscht. Dieser Brotlaib sieht nur goldig aus, holpert aber steinhart und unkomfortabel wie ohne Fahrwerk dank kurzem Radstand, Starrachse und Blattfedern über Wege, bei denen in Kittymobil kein Geschirr klappern würde. Nach insgesamt nun knapp 1000km in dem UAZ sind wir uns nur noch mehr sicher: nichts geht über Kittymobil! Und auch die gesamte Strecke zu und von den Tsaatan wäre damit machbar gewesen. Auch im Winter. Hinterher ist man immer schlauer.
[caption id="attachment_1116266" align="aligncenter" width="1024"] created by dji camera[/caption]
Die Anreise ist nicht gerade einfach. Insgesamt knapp 500km rumpelt man über teils wirklich üble Pisten, der Winter macht es dahingehend erträglicher, als dass man streckenweise auf Flüssen und Seen fahren kann. Am ersten Tag sind wir bis Ulaan Uul gezuckelt. Ein Dorf im Darkhad Tal, welches von Wikipedia als „selbst für mongolische Verhältnisse sehr abgelegen“ beschrieben wird, aber seit dem 16. Jahrhundert besiedelt ist. Ja, das Tal ist wirklich „sehr abgelegen“, aber für uns ging es von dort aus nochmal einen ganzen Tag weiter in die Taiga.
In Ulaan Uul schliefen wir in einem „Guesthouse“, was eigentlich nur eine Bretterbude für Durchreisende ist. Fließend Wasser gibt es in der Mongolei im Winter sowieso nicht, in solchen Unterkünften ist es auch im Sommer nicht vorgesehen. Man bringt Bettzeug, Verpflegung und Wasser selbst mit, nur Brennholz wird gestellt. Außer uns schliefen dort noch ein Vater-Sohn Team fliegender Teppichhändler, eine reisende Friseurin und ein Vietnamese und ein Japaner auf Winterreise samt Guide. Wir reisten ohne Guide, nur mit dem Fahrer des UAZ und Bayrmaa, unserer Köchin, die uns mit Essen verwöhnte, was aber eher einer Mast glich. Da aber keiner irgendeine Fremdsprache sprach, blieb es bei liebevoller Mast durch die gute Seele, die zwar genauso alt war wie ich, uns aber wie ein Engel bemutterte und so viele Lebensmittel in 3 großen Kartons bevorratet hatte, dass wir davon in den sechs gemeinsamen Tagen 24 Stunden nonstop hätten essen können. Wir mochten Bayrmaa ab der ersten Sekunde.
Auf dem Tsaagan Nuur See bogen wir spontan ab, als Bayrmaa Eisfischer entdeckte. Eisangeln kennt man ja: Loch ins Eis, Angel rein, Fisch raus. Eisfischen dagegen ist ausgeklügelter. Man braucht zwei Löcher im Abstand von etwa 50m, eine lange Schnur und ein langes Fischernetz. Das Netz wird unter dem Eis von einem Loch zum anderen gezogen und mit der Schnur gesichert. Wir haben erst jetzt gegoogelt, wie man denn das Netz unter dem Eis zwischen den beiden Löchern spannt. Spannend! Und ganz schön viele Fische, die da mit einem „Fischzug“ sofort schockgefrostet wurden!
Bayrmaa brachte uns in ihr kleines Holzhaus zur weiteren Mast, bevor wir die letzten 35km zum Wintercamp der Tsaatan antraten. Auf dem Weg hielten wir an einem Fluss und sammelten große Eisblöcke ein, um sie den Nomaden als Trinkwasser mitzubringen, denn im Wald müssen sie ihr Trinkwasser aus Schnee schmelzen. Die Tsaatan ziehen in kleinen Familienverbänden von 3-5 Familien zusammen nomadisch umher, nur im Winter sind sie an einem Ort. Und das ist seit etwa fünf Wintern an gleicher Stelle, denn die Nomaden gehen dazu über, im Winter in Blockhütten zu leben. Im Sommer und bei manchen Familien noch im Winter, wird in einfachen Tipis aus Canvas gewohnt. Und genau so ein Tipi bezogen wir für drei Nächte.
Da die Rentiere ja nicht geschlachtet werden, sind auch die Tipis nicht aus Fellen oder Häuten gebaut, sondern aus Canvasstoff, der um Stangen gelegt ist. Geschlafen wird auf Holzpodesten, auf denen „Jurtenfilze“ (Schafwollfilz, 1-2cm dick) liegt, kein kuscheliges Rentierfell wie zum Beispiel während unserer EISREISE im Eishotel bei Kiruna (Unser Buch dazu: EISREISE). In der Mitte steht ein Blechofen, es duftet nach Waldboden, Holz und Rauch. Genau richtig für uns! Wir zogen mit unserer ganz normalen Bettdecke aus dem Kittymobil ein. Es war so still im Wald, dass wir das Flügelschlagen der Vögel hören konnten. Durch die Öffnung des Tipis sahen wir nachts die Sterne funkeln. Traumhaft!
In einer „Gemeinschaftshütte“ wurde gekocht und sich getroffen. Hier knüpften Männer Zaumzeug für die Tiere, schnitzten kleine Dekoelemente, trafen sich Frauen zu salzigem Milchtee, hier wurde gekocht und gelebt. Und wir saßen einfach dabei oder durften mit anfassen. Ich half Bayrmaa beim Kochen und einem Mann beim Holzhacken, doch meist waren wir einfach nur stille Beobachter.
In der ersten Nacht kannten uns die Nomaden noch nicht wirklich und meinten, sich um uns im Tipi sorgen zu müssen. Sie konnten ja nicht wissen, dass wir im Kittymobil bis -20°C ohne Heizung schlafen, mit Feuer umgehen können und es auch schaffen, unser Feuer im Tipi über Nacht am Leben zu halten. Ohne gemeinsame Sprache war es schwer, ihnen zu verdeutlichen „wir sind zwar keine Mongolen, aber trotzdem Nomaden und keine dummen Touristen“. Alle zwei Stunden kam einer der Nomaden in unser Tipi, um Holz aufzulegen. Und zwar so viel, dass wir fast verglühten vor Hitze!
Unsere gute Seele Bayrmaa regelte das am nächsten Tag. Wir zeigten ihr Fotos von Kittymobil, erklärten, das sei unsere „Jurte auf Rädern“ und schon war unser „Maschin Gir“ in aller Munde. Seitdem durften wir drei Tage und Nächte unser Feuer selbst bewirtschaften. Bayrmaa stellte uns bei den Familien bei „Hausbesuchen“ vor und so kommt es, dass wir nun gut 1/10 der noch existierenden Tsaatan kennen, denn es gibt nur noch 40 Familien.Schaut Euch dieses Video an:
https://m.youtube.com/watch?v=AS_gmvtj4R0
Der Klimawandel macht es immer schwerer, für die Rentiere Nahrung zu finden und somit schwindet ihre Lebensgrundlage. Das Problem ist: regnet es im Winter, gefriert der Regen auf dem Boden zu einer Eisschicht, durch die die Rentiere nicht an den Boden und somit nicht an ihr Futter kommen können. Da diese Eisschicht viele Monate nicht mehr taut und unter immer mehr isolierendem Schnee versinkt, reicht ein zu warmer Winter (-regen), um ganze Herden zu dezimieren.
Bayrmaa weckte uns am ersten Morgen noch vor Sonnenaufgang. Jan blieb vor dem Feuer liegen, ich zog mich an und lief mit Bayrmaa in den Wald. Es war -31°C, die ersten Lichtstrahlen des Tages brachten den Feenstaub auf allen Ästen, in der Luft und auf dem Boden langsam zum Glitzern, der tief verschneite Taigawald wachte märchenhaft funkelnd und schimmernd auf. Und mit ihm die 700 Rentiere, die rund um das Wintercamp im Schnee lagen. Die Nomaden versammelten sich bei Tee und Brot in einer Hütte und warteten, bis alle da waren. Dann ging es los.
Die Rentiere laufen jeden Morgen zu Sonnenaufgang in den Wald, um Fressen zu suchen. Immer ein Rentiernomade reitet auf einem Rentier hinterher und treibt die Tiere abends auch wieder zurück. Morgens bindet jeder seine über Nacht angepflockten Tiere los, bis die gesamte Herde frei ist. Dann rufen alle komische „Huh!“ Laute und die Tiere rennen los, mit der aufgehenden Sonne im Rücken in den glitzernden Wald voll Feenstaub hinein. So schön!
Kurz vor Sonnenuntergang treffen sich wieder alle zu Tee und Brot und warten, bis die Rentiere aus dem Wald zurückgetrieben werden. Alle Nomaden, auch wir, stellen sich dazu in einer Gasse auf, durch die die Tiere in einen Pferch geleitet werden. Zwei Leute, darunter ich, passen mit langen Stangen „bewaffnet“ an der Öffnung des Gatters auf, dass kein „falsches“ Rentier ausbückst. Die Rentiere werden nämlich sortiert nach Familie wieder aus dem Pferch hinausgeführt und für die Nacht angebunden.
All das geschieht sehr sanft und ruhig. Alle Tiere sind absolut zahm und völlig verschmust. Man sagt, die Tsaatan behandeln ihre Tiere wie Familienangehörige. Und so ist es auch. Manche haben schön verzierte Halfter, jedes von ihnen benimmt sich eher wie ein kuscheliger Hauskater als wie ein Rentier. Nähert man sich, kommen sie einem entgegen, um den Kopf an einem zu reiben. Dabei vergessen sie nur meist ihr Geweih, sodass man etwas aufpassen muss, bei solchen „Schmuseattacken“ nicht verletzt zu werden.
Die Jungtiere nuckeln an nackten Händen wir Kälbchen und selbst die großen, älteren Tiere haben nichts dagegen, wenn man sich zu ihnen setzt und sich an ihren großen Bauch kuschelt. Wir haben in den 3 Tagen kein einziges scheues oder schreckhaftes Tier erlebt. Jedes Tier war mehr Plüschtier als Nutztier!
Wir haben nicht ganz verstanden, warum manche Tiere nachts frei herumliefen und andere nicht. Fakt ist: um unser Tipi liefen Nacht für Nacht immer wieder Rentiere und brachten den Schnee zum Knirschen. Und daran waren wir selbst schuld. Bayrmaa nämlich hatte uns erklärt, wir sollten hinter unser Tipi pinkeln. Nur für größere Geschäfte gehen die Tsaatan auf ein Holzgestell. Da der Boden ja schon gefroren ist, wenn die Nomaden das Wintercamp beziehen, gibt’s auch keine Grube, sondern ein Holzpodest über einem ständig wachsenden braunen „Stalakmiten“. Wir pinkelten also wie die Tsaatan hinter unser Tipi in den Schnee. Und weil die Tsaatan viel salzigen Tee trinken, ist wohl der Urin auch etwas salzig, was wiederum die Rentiere total lecker finden. Und so schleckten die Rentiere Nacht für Nacht den gelben Schnee hinterm Tipi wieder weiß…
Wir verbrachten jeden Tag zu Sonnenauf- und Untergang viel Zeit bei den Rentieren, streichelten, kuschelten und fotografierten sie. Und ich durfte auch reiten. Die Tsaatan nutzen ihre Tiere auch als Reittier. Pferde haben sie nicht (außer auf dem Teller). Man steigt über einen Baumstumpf auf (und auch wieder ab, anders als beim Pferd!) und gleitet dann sehr „elastisch“ durch den Wald. „Gelenkt“ wird wie beim Pferd und wenn man sich an den etwas elastischeren Gang gewöhnt hat, vergisst man fast, dass man gerade auf einem ganz ungewöhnlichen Reittier sitzt.
Hier könnte unser traumhafter Bericht enden. Doch leider wurde die Harmonie und Märchenhaftigkeit jäh zerstört. Wir hatten eine so schöne und wirklich traumhafte Zeit mit den Nomaden, die uns nach ihrer anfänglichen Sorge der ersten Nacht mit machen und mit ihnen leben ließen. Bis die Thais kamen. Plötzlich tauchten sechs Thailänder auf. In bunten, extrem teuren Funktionsklamotten, mit teuren Rimova Reisekoffern und je 1-2 riesigen Kameras um den Hals baumelnd. Wir saßen gerade in der Gemeinschaftshütte, als sich die Stimmung änderte. „Touristen!“.
Offensichtlich waren wir für die Nomaden keine Touristen, denn die Thais wollten nicht wie wir ganz normal im Tipi schlafen, sie schliefen in ihren Expeditions-Schlafsäcken in der Gemeinschaftshütte, die dann der Gemeinschaft sofort entzogen war. Unser Tipi wurd