Egal wer nörgelt? Das System funktioniert noch immer reibungslos!

@w74 · 2018-02-03 16:06 · deutsch

Probleme im System? Gott bewahre!


hitna.jpg

Ein Beitrag zum Thema Gesundheitsversorgung @leroy.linientreu

In meinem Rücken klingen noch die warnenden Worte meiner Frau. Doch wie immer, viel, viel zu spät! Anstatt die notwendige Aufmerksamkeit an den Tag zu legen, darf ich meinen Körper dabei beobachten, wie beide Beine, in einer (selbstredend ungeplanten) halsbrecherischen Aktion den Versuch wagen, horizontal mit meinem Kopf gleichzuziehen. Eigentlich kein Grund zur Besorgnis, wenn ich nur nicht so verdammt sicher wäre, nicht mit einem Gleitschirm verbunden zu sein. Ich möchte schwören, während der letzten 30 Minuten weder einen kleinen Rucksack auf meinen Rücken geschnallt, noch vorher Ballonseide gefaltet und verpackt zu haben. Ich bin mir sogar hundert Prozent sicher, lediglich einen Porzellanteller in der linken Hand gehalten zu haben, auf dem die Hälfte eines frischgebackenen Hefekuchens mit einer Schoko-Walnuss-Rosinen-Füllung lag. Ursprünglich gedacht als freundliche Geste für den immer hilfsbereiten Nachbarn. Jetzt, nach einer ersten Einschätzung zur Lage vor Ort, muss der Freundschaftsdienst wohl weit hinten anstehen. Was war das noch, was mir meine Frau nachrief? Erwähnte sie nicht etwas mit Frost und Eis auf den Stufen der Treppe vor der Haustür? Könnte gut sein. Ist aber auch im Moment eher nebensächlich, da ich, gedanklich relativ unsortiert, der Schwerkraft gehorchend auf dem Rücken liegend, hautnah Bekanntschaft mit unserer Fußmatte mache. Ein Abgang in der Form war von mir zwar nicht geplant. Ich bin zumindest nicht unglücklich darüber, wenigstens direkt vor der untersten Stufe angekommen zu sein. Es hätte schlimmer kommen können. Nun ist Zeit mich in aller Ruhe meinen Schmerzen zu widmen, die sich vom Steißbein aufwärts ihren Weg in mein Kleinhirn bahnen. Meine gedankliche Überforderung wird durch den Umstand hervorgerufen, mir nebenbei auch noch Sorgen darüber machen zu müssen, wo eigentlich der Hefekuchen abgeblieben ist? Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Aber dafür weiß ich, wo der Teller einen Unterschlupf gefunden hat. Genauer gesagt, zumindest ein Teil davon. Denn ein unübersehbares Stück Villeroy &Boch steckt senkrecht in meinem Handgelenk und kann sich nicht der Flut Blut erwehren, die sich über das blau-weiße Design ergießt.

Ein erstaunter Blick und die nächste Einschätzung: Scheiße, das sieht nicht wirklich gesund aus!

Der Teller ist also mit Sicherheit nicht mehr zu retten. Der Kuchen schon. Noch immer eingehüllt in Frischhaltefolie liegt das leckere Backwerk zirka zwei Meter neben dem Ort meiner unsanften Landung. Bevor der Hund und die Katzen sich um das überraschend aufgetauchte Futter streiten können, nehme ich das Backwerk in meine Obhut und transportiere es zurück ins Haus. In Begleitung vom Hefekuchen und frischem Porzellan-Piercing verschwinde ich schnell im Bad. Mit diesem Fremdkörper in meiner linken Hand und der sich immer weiter ausbreitenden roten Einfärbung, kann ich unmöglich meiner Frau gegenübertreten. Die kippt mir augenblicklich aus den Latschen. Diese gestandene Frau ringt meist schon nach Frischluft, wenn die Katze eine Maus oder einen Vogel obduziert. Daher muss unverzüglich das enge, intime Verhältnis zwischen mir und Villeroy & Boch getrennt werden. Anders ist nämlich der Blutfluss überhaupt nicht unter Kontrolle zu bekommen.

Nun ein Ratschlag für alle, die einmal in eine vergleichbare Situation geraten sollten. Das Entfernen des Fremdkörpers schmerzt um ein Vielfaches weniger als das, was im Anschluss an das Metzgerwerk noch folgt. Das kann ich bezeugen. Was folgt, ist das Blut abzuwaschen und die Verwunderung darüber, wie tief man doch in den eigenen Körper blicken kann. Wenn jedoch die Ehefrau die Badezimmertür aufreißt, weil sie einer ungewöhnlichen, dazu auch noch roten Spur gefolgt ist, dann nämlich beginnt das eigentliche Drama. „Ach du lieber Gott. Wie ist das denn nur passiert? Ich habe es dir doch noch gesagt. Aber du hörst ja nie zu, wenn ich was sage. Notarzt. Wo ist die Nummer vom Notarzt? Nein, nur nicht. Zeig es mir nur ja nicht. Wo ist nur der Verbandskasten? Als hätte ich es nicht geahnt.“

Nachdem der Verbandskasten endlich griffbereit ist, versorge ich die Wunde mit einer Kompresse und gebe die Richtlinien für die nahe Zukunft bekannt: „Na, dann machen wir uns mal auf den Weg.“ „Ich kann nicht fahren. Ich bin viel zu aufgeregt. Ich rufe lieber den Notarzt.“ In diesem Augenblick bin ich wirklich froh über die (nicht immer) gut ausgeprägte Fähigkeit meiner Frau, sich selbst realitätsbezogen einzuschätzen. Denn es trifft genau den Punkt. Normalerweise drischt sie die letzte Pferdestärke aus ihrem Golf. Hat jedoch der Hund den Vorderlauf gebrochen oder die Katze Bisswunden aus einem intensiven Nahkampf davongetragen, wird der Weg bis zum Tierarzt zur Geduldsprobe. Ich darf nicht hinters Steuer, weil sie ja das ganze Elend nicht anschauen kann. Da ja sowieso alle Sorgen nur auf ihren Schultern lasten, kann sie sich auf das Fahren nicht konzentrieren. Resultat: Höchstgeschwindigkeit 35 km/h. Jeder Bauer mit seinem Traktor ist schneller am Ziel. So übernimmt der Nachbar die Rolle des Notarztes und fährt mich zur Ambulanz in der Nachbargemeinde. Ich kann mir nicht helfen, aber als der Verband von meiner Wunde gelöst wird, erinnert mich der Blick meiner Hausärztin an den meiner Frau. „Ach Gott, ach Gott, wie hast du denn das angestellt? Das kann ich nicht klammern. Was weiß ich, was da alles durchgeschnitten wurde?.“ Okay. Wenigstens eine klare Aussage und das Eingeständnis ihrer Unfähigkeit. Für mich ist die Sache eigentlich klar. Wenn ich all meine Finger bewegen kann und Schmerzen spüre, kann es wohl so dramatisch auch nicht sein. Aber wer diskutiert schon gerne mit seiner Hausärztin?
Notaufnahme.jpg

Der Nachbar und ich machen uns mit neuem Verband auf in das nächstgelegene Klinikum.Blöd ist halt nur, dass das Glatteis, was ich nur auf den Stufen bis zu meiner Haustür vermutete, sich inzwischen auf die ganze Region verteilt hat. Bei unserem Eintreffen platzt die Notaufnahme aus allen Nähten. Es gehört nicht viel Intelligenz dazu, sofort zu realisieren, dass eine fünf Zentimeter lange Schnittwunde ein Klacks gegen einen offenen Schienbeinbruch, die schreiende alte Dame auf der Liege (meine Diagnose: Oberschenkelhalsbruch, denn damit kenne ich mich aus, da ich im letzten Jahr meinen Nachbarn mit genau einem solchen im Schubkarren bis zum ersten Heuhaufen kutschiert habe, auf dem er dann mit viel Gejammer auf den Notarzt wartete) und dem verdrehten Arm des kleinen Mädchens mit den verweinten Augen und der besorgten Mama an ihrer Seite ist. Ich sitze also einfach nur da, beobachte und warte. Was bleibt auch sonst zu tun? Während ich darüber sinniere, ob die Oma mit dem Oberschenkelhalsbruch je wieder auf die Beine kommen wird, öffnet sich die automatische Tür zur Notaufnahme und ein Mann steuert den Desk der Krankenschwester an, die alle eingehenden Patienten registriert und nach Dringlichkeit in die Warteliste einreiht. Der Dialog ist kurz, heftig und beinhaltet so ziemlich jedes Schimpfwort, das einem außerhalb des Balkans eine Menge Schwierigkeiten einbringen könnte. Da der Disput es an Lautstärke nicht missen lässt, sind wir alle, die wir hier auf eine medizinische Versorgung warten, einer Meinung: Der dicke Prolet hat das verbale Battle mit der Krankenschwester klar nach Punkten verloren. Aber Fettwanst wäre nicht Fettwanst, hätte er nicht noch ein As in seinem Ärmel.

Was nun folgt, ist an Unverfrorenheit schwer zu überbieten. Diese Wildsau stellt sich unverfroren zwischen alle Patienten, zieht sein Smartphone aus der Tasche und beginnt ein Telefonat, dessen Inhalt mich erneut an der Existenz Gottes zweifeln lässt. Wenn der alte Mann da oben je bei mir Punkte gutmachen will, dann startet er bitte sofort eine Rückrufaktion. Dummheit muss zukünftig unbedingt mit ganz schlimmen Schmerzen einhergehen. Andernfalls werde ich noch straffällig. Fettwanst hat, nach seinen eigenen Worten zu beurteilen, einen sehr engen Freund, Partner oder Bekannten mit sehr viel Einfluss in dieser Klinik. Solche Menschen nennt man auf dem slawisch sprechenden Teil des Balkans Kum. Daher an alle Urlauber, die in nächster Zeit die Region vom Schwarzen Meer bis zur Adria anpeilen: Merkt euch dieses Wort! Denn einmal in Schwierigkeiten geraten, gilt es unbedingt jemanden ausfindig zu machen, der ganz entspannt sein Smartphone aus der Tasche zieht und dabei verkündet: „Ich rufe nur mal kurz meinen Kum an.“ Ab dem Moment dürfen Sie sich zurücklehnen, denn die Rettung ist nicht fern. Kum bedeutet übersetzt Pate und wird mit lang gezogenem u ausgesprochen. Pate ist natürlich eine ganz unglückliche Übersetzung, da es weder mit einem italienischen Paten, noch mit Onkel Heinz in Verbindung zu bringen ist, der sich als Taufpate deiner Nichte Rita zur Verfügung stellte. Der Balkan-Pate, egal ob er nun neben deinem Taufbecken, bei der Kommunion oder auf dem Standesamt neben dir stand, er ist ab dem Moment dein Blutsbruder auf Lebenszeit. Gegen das, was da verbandelt ist, sehen sogar Winnetou und Old Shatterhand ziemlich blass aus. Jeder gute Pate (und es gibt nur gute Paten) unterhält beste Kontakte zu mindestens drei Polizisten mit genügend Lametta auf den Schulterblättern, zehn dubiosen Schwarzhändlern und ist dicke befreundet mit zirka fünf Ober- oder Chefärzten in den verschiedensten Kliniken. Wenn nicht Chefarzt, dann zumindest mit der Krankenschwester die einen besonderen Einfluss auf den Chefarzt hat.
Notaufnahme warten.jpg

Doch zurück zu dem Fettwanst mit Smartphone inmitten der Notaufnahme. Er brüllt nämlich gerade die alles entscheidende Frage in das Telefon: „Pate, kannst du für mich mal kurz an ein paar Drähten ziehen?“ Das reicht. Der Rest regelt sich nun von selbst.

Der Fettwanst mit seiner Frau kommt noch vor der Oma und dem Mädchen an die Reihe. Meine Chancenlosigkeit benötigt da keiner gesonderten Erwähnung Lediglich den offenen Schienbeinbruch, kann Fettwanst mit Frau im Schlepptau nicht mehr überholen.

Ich kann tiefenentspannt durchatmen. Das System funktioniert also noch. Gott sei Dank!

#deutsch #gesundheit #notfall #humor #alltag
Payout: 0.000 HBD
Votes: 21
More interactions (upvote, reblog, reply) coming soon.