Jeder hat ihn schon erlebt, ist in ihn hineingeraten, erkennt die Aussichtslosigkeit einer Flucht und lässt ihn mit Würde über sich ergehen – den Moment, wenn du Dinge optisch wahrnimmst, von denen du voller Hoffnung warst, hoffentlich nie im Leben beiwohnen zu müssen, oder Neuigkeiten erfährst, die dir die knapp bemessene Kapazität deines Vorstellungsvermögens unmittelbar vor Augen führt. Wie lässt sich in einem solchen Fall unser spontanes Verhalten beschreiben? Man sitzt oder steht da und wundert sich. Typisch auch dabei, wie so oft beim Erstauntsein: Man gibt sich in der Regel sprachlos.

In früheren Jahren konnte es der Moment sein, als Opa Bertram (während des Spiels in der Kreisliga B zwischen der TUS Fürth und Union Remmesweiler) ganz gemächlich mit einer Flasche Bier in der linken Hand sich den Weg in Richtung Seitenlinie des Spielfeldes bahnte, um recht unvermittelt, aber mit viel Schwung, dem Linienrichter seinen hölzernen Gehstock ins Kreuz zu schlagen. Der Anlass zu dieser Unmutsbekundung, war ohne Zweifel das Signalisieren einer Abseitsstellung, mit der der Enkel des Hobby-Golfers, um eine vielversprechende Chance gebracht wurde. Ja, damals blickte man noch recht verdutzt auf eine derartige Aktion. Heutzutage bedarf es zum Verwundertsein schon mindestens eines zerstörerischen Angriffs auf die Kauleiste des Schiedsrichters – oder noch eine Etage tiefer.
Bei der heutigen Reizüberflutung bedarf es anscheinend immer mehr Spektakel, damit uns die Verwunderung die Augen öffnet. Doch, und dies sollte, trotz (oder gerade wegen) unseres Hangs zum vorjuristischen Sadismus, nicht vergessen werden: Auch ohne Verstümmelung und Leichengeruch kann man in Situationen geraten, die Verwunderung und Sprachlosigkeit in den Vordergrund rücken. Ein exzellentes Beispiel hierfür lieferte mir frei Haus eine Straßenumfrage in NRW, in der das Wahlverhalten einzelner Mitbürger (kurz vor der Kommunalwahl) im Fokus zu stehen schien. Nun mag sich der eine oder andere fragen, warum meine Hand nicht augenblicklich zur Fernbedienung unterwegs war. Ganz einfach, weil bei mir jedes Mal vor lauter Freude der Kreislauf Rumba tanzt, wenn vor laufender Kamera des Volkes Meinung erfragt wird.
Ob jetzt dem Sportler oder Frau Kammschmidt aus Recklinghausen das Mikrofon unter die Nase geschoben wird, spielt da mehr oder weniger eine nebensächliche Rolle. Hauptsache, unsortierte Gedanken finden ihren Weg über die Zunge. So informierte uns einst Andreas Möller über eine scheinbar abgeschlossene Umsiedlung im europäischen Raum, als er das interessierte Fußballvolk wissen ließ: »Ob Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien.« Da konnte und wollte Lucas Podolski nicht nachstehen und gab Ratschläge für den Alltag zum Besten: »Wir müssen jetzt die Köpfe hochkrempeln – und die Arme auch.«
Doch nun rasch weit weg vom professionell gemähten Rasen und zurück auf die Straßen in NRW, wo der eifrige Reporter des Westdeutschen Rundfunks der Gattin eines Metzgermeisters in Münster gegenübersteht und mit voller Anspannung auf eine Antwort der Fachfrau für das Fleischige wartet, die da lautet: »Haben Sie sich, angesichts der anstehenden Kommunalwahl, bereits entschieden, welche Partei Sie am Sonntag wählen werden?« Als Randbemerkung sollte nicht unerwähnt bleiben: Wäre mir diese Frage serviert worden, hätte ich umgehend seinen Resortleiter oder den Intendanten des WDRs darum gebeten, das Personal mit Freilauf auf Restbestände vom klaren Verstand untersuchen zu lassen. Wer posaunt, ohne jegliche Androhung von körperlicher Gewalt, freiwillig heraus, wem er bei einer geheimen Wahl seine Stimme zukommen lassen wird? Vielleicht Friedrich Merz? Aber dem glaubt bestimmt keiner.

Doch in Münster, und dort insbesondere in der Umgebung von Aufschnitt, Blutwurst und Kalbsschnitzel, scheint man es mit der Zurückhaltung nicht sonderlich genau zu nehmen. Zumindest lässt die resolute Antwort der Geschäftsfrau diesen Rückschluss zu. »Ich wähle dieses Mal die AfD.« Sie sind längst passé, die Zeiten, da man sich über eine solche Ankündigung hätte wundern müssen. Wenn die Jungs und Mädels mit der Zauberformel für eine blühende Zukunft auf deutscher Erde es bis auf den Wahlzettel geschafft haben, dann kann das Kreuz, welches die Dame dieser Partei zu verleihen gedenkt, kein verwerfliches Vergehen sein.
Die eigentliche Verwunderung, von der ich anfänglich sprach, bahnte sich erst bei mir ihren Weg vom Steißbein bis unter die Augenlider, als sie (noch bevor der wissbegierige Mikrofonständer nachhaken konnte) diesen Nachsatz folgen ließ: »Und wenn es auch mit denen nicht klappt, dann kann man ja das Ganze noch rückgängig machen.« Ich muss zu meiner Schande eingestehen, nicht bis ins letzte Detail über jede Wahlrechtsreform informiert zu sein. Doch deutet diese Bemerkung unzweifelhaft darauf hin, dass das Ding mit dem Regierungsauftrag ein recht kurzfristiges Unterfangen sein könnte.
Eine Sonntagsumfrage hat ergeben, dass der Bürger vom Unmut über die da oben getrieben scheint. Die Konsequenz lässt es an Logik nicht missen: Der Wähler verlangt sein Kreuz zurück. Alle Karten werden neu gemischt. Die Legislatur wird auf die Zeit einer Jahreszeit zurechtgestutzt. Ein idealer Zeitpunkt (wie ich denke), den „Regierungsbaukasten“ auf den Markt und in die Regale der Supermärkte zu bringen. Vielleicht auch in Münster – gleich neben dem geräucherten Schweinebauch. Es kommt die Zeit, in der mich überhaupt nichts mehr verwundert. Auch nicht, dass Madrid in den Abruzzen liegt.

