"Hm, ob das helfen kann? Ob ich da überhaupt Bedarf habe?"
Nachdem mir die Argumente des eben gelesenen Artikels darüber, wie man alte Traumata auflösen kann, indem man sich nochmals an den Ort des Geschehens begibt und sich der eigenen Angst stellt, nochmal durch den Kopf gerattert waren stand mein Entschluss vor einer Woche fest.
Jeden Tag fahre ich mit klopfendem Herz an der Stelle meines Autounfalls vorbei und biege genau dort ab und ja es wird jeden Tag leichter. Ich war gezwungen, schon kurze Zeit nach dem Autounfall, vor einigen Wochen, wieder den selben Weg einzuschlagen, denn es ist schließlich der Weg zu meinem Arbeitsplatz.
Freiwillig hätte ich das aber definitiv nicht so schnell wieder gemacht!
Da mich vor 2 Jahren ein Vorfall jedoch viel tiefer verwundet hat, als dieser dumme Autounfall und ich davon, wie ich vermute, immer noch einen kleinen „Knacks weg habe“ war mir klar, dass es einen Ort gibt, den ich nochmal besuchen muss...
März 2016
Total müde kam ich Sonntags vom Spätdienst nachhause, schenkte mir ein Gläschen Rotwein ein und setzte mich mit Ex-Freund und Ex-Mitbewohnerin gemütlich zum Plausch zusammen, als mein Handy klingelte.
Vati war dran, da er mich nie anruft, sondern meine Mutter die sozialen Interaktionen für gewöhnlich leitet und beide eigentlich gerade auf einer Geburtstagsfeier waren wusste ich sofort, irgendwas stimmt hier nicht.
Er sagte, er brauche die Telefonnummer des Restaurants in dem die Feier statt findet. Verwirrung machte sich breit, genau dort müsste er sich ja eigentlich befinden. Wozu, fand ich dann erst nach mehreren Rückfragen heraus.
Was war passiert?
Bei der runden Geburtstagsfeier einer Freundin wurde meine Mutter überredet, den Brief, den sie ihrer Freundin geschrieben hatte doch allen vorzutragen, anstatt ihn nur zu überreichen.
Bereits direkt nach dem ersten Satz hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen.
Die Reanimation verlief sehr schlecht, erst war kein Rettungswagen in der Nähe frei, dann die Sauerstoffflasche leer usw. Unterm Strich war der Fazit, dass meine Mutter sich viel zu lange in herztotem Zustand befunden hatte, sie lag im Koma und ob ihr Hirn die Strapazen gut überstanden hat, ob sie wieder aufwachen würde, wenn ja vermutlich schwerst pflegebedürftig, all das war vollkommen unklar.
Als wir in der Klinik eintrafen, meine Schwester im Gepäck, die ich aus einem Blinddate in Darmstadt geholt hatte, da der weitere Verlauf ungewiss war, kam mir alles vor wie ein schlechter Traum.
Die Intensivstation wurde für einige Zeit unser 2. Zuhause, auf einmal schrieb ich einen Pflegeplan für meine eigene Mutter, anstelle der Menschen mit Behinderung für die ich es sonst beruflich tue.
Nie war ich so von ganzem Herzen dankbar für meine pflegerische Ausbildung wie in diesen schweren Stunden.
Denn wo meine Verwandten sich übergeben mussten, beim Anblick all der Schläuche in Mutti’s Körper, konnte ich das Team beim Waschen und Lagern unterstützen. Erklärten uns die Ärzte den aktuellen Stand, konnte ich anschließend „übersetzten“. Wäre ich nicht so übermüdet gewesen, hätte ich meiner ehemaligen Medizin- und Pflegewissenschafts-Lehrerin eine sentimentale E-Mail geschickt…
Zum Glück hat meine Mutter den Weg zurück in unsere Welt geschafft und inzwischen ist alles wieder fast wie vorher. Die ganzen anfänglichen kognitiven und physischen Beeinträchtigungen, wegen derer ich schon überlegt hatte, wie ich sie zuhause pflegen könnte, sind fast vollständig verschwunden.
Als sie wieder wach war, obwohl sie kaum etwas verstand und alle 5 Minuten ihr Gedächtnis gelöscht war, waren wir alle unglaublich glücklich, egal wie beeinträchtigt, Hauptsache am Leben!
Als der Spuk mit der Klinik vorbei war, verdrängte ich erstmal die ganze Sache, da u.a. ein Umzug anstand und ich sonst wohl in ein tiefes Loch gefallen wäre.
Denn nach und nach kam dieser Beigeschmack doch immer mal hoch:
Jedes Leben wird enden und es könnte schon im nächsten Augenblick sein.
Vorher wusste ich das zwar theoretisch, war aber nie so damit konfrontiert, wie in dieser Zeit.
Nun zurück zu meinem Vorhaben:
Mir war durch den Artikel aufgefallen, dass ich seit dieser Zeit nie wieder einen Fuß auch nur in die Stadt gemacht habe, in der sich die Klinik befindet. Seltsamerweise verbinde ich emotional diese schlimme Zeit nicht primär mit dem Restaurant, sondern mit dem Ort, an dem ich es selbst gesehen habe.
Zu den regelmäßigen Terminen, da meine Mutter bis vor kurzem noch mit einer sogenannten Life-Vest überwacht wurde und ihr Herz außerdem kontrolliert wird habe ich sie nie begleitet. Aus Angst, wie mir bewusst wurde, dass alles wieder real wird, wenn man diesen Ort nochmal betritt.
Als ich meiner Mutter erzählte, ich würde gern nochmal dorthin fahren um mich dieser Angst zu stellen, fand sie die Idee gut und bot sofort an, mich zu begleiten.
Die Nacht vor unserem kleinen „Ausflug“ schlief ich nicht, die Angst war größer als erwartet, kurz überlegte ich, es abzublasen, da ich so müde war am nächsten Tag.
Ich entschloss mich dann aber trotzdem für den Besuch der Klinik.
Als wir parkten kam mir alles surreal vor, Sonnenschein, Mutti war bester Laune und die Welt war in Ordnung, obwohl es genau dieser Parkplatz war.
Ich knipste noch ein Bild vom grauen Kasten und eins von Mutti davor, schaute mir die Räume an, bei denen Mutti zur Untersuchung geht und wir fuhren zum Eingang der Intensiv-Station. Mutti meinte, es sei ja Unsinn vor diesem Ort Angst zu haben, denn man habe ihr dort ja zurück ins Leben geholfen.
"Ist was dran!" musste ich zugeben und nachdem sich die Welt ganz normal weiter drehte und ich später stolz zurück ins Bett fiel, um ein kleinen Nickerchen zu machen, fühlte ich mich um einige Lasten leichter.
Mir kam nun im Anschluss die Idee, hier davon zu berichten und somit das Thema nochmal zu reflektieren, therapeutisches Schreiben sozusagen ;-)
Und ich finde das Ganze hat mir wirklich weiter geholfen, dabei die Vergangenheit anzunehmen, auch mit den dunklen Kapiteln und entlastet nach vorne zu schauen.
Denn als Familie hat uns diese Zeit extrem vereint, wir sind noch offener und genießen die gemeinsame Zeit viel intensiver.
Jedem, der mit Ereignissen aus der Vergangenheit hadert oder sich von ihnen noch „heimgesucht“ fühlt und diese mit einem bestimmten Ort stark assoziiert, kann ich diese Strategie nun guten Herzens empfehlen.
Wie steht ihr zu dieser Thematik?
Habt ihr eventuell ähnliche Erfahrungen gemacht?
Könnt ihr euch vorstellen, einer alte Wunde auf diese Weise in Richtung Heilungsprozess zu helfen oder hängen diese Aspekte für euch persönlich nicht zusammen?
Vielleicht verknüpft man einen alten Schmerz auch mit anderen Reizen, wie einem Geruch, einem Song oder sonstiges und umgeht diese deshalb bewusst oder unbewusst.
Vielen lieben Dank für eure Aufmerksamkeit,
ich wünsche euch ein wundervolles Wochenende! =)
Yaraha