Die Gans und der Fuchs

@zeitgedanken · 2025-07-13 10:23 · Deutsch D-A-CH

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Eine Parabel über das Erwachen des Menschen

Es war einmal ein Hof, weit draußen auf dem Land, wo Gänse gehalten wurden. Sie watschelten im Gleichschritt, wurden gefüttert, gezählt, betreut – und regelmäßig gerupft. Es tat weh, aber niemand schrie. Man hatte ihnen beigebracht, dass Schreien unzivilisiert sei. Dass Ordnung wichtig sei. Und dass der Hof sie schütze – vor dem Fuchs. Der Fuchs, so sagte man, sei das Böse da draußen.

Doch was niemand sah: Der Fuchs war längst drinnen. Er trug Amtstracht statt Fell, sprach von Nachhaltigkeit, Gänsewohl und „dem großen Gleichgewicht“. Er war klug, charmant, listig. Und er liebte Federn.

Eine Gans jedoch – nennen wir sie die Einzige – begann zu zweifeln. Warum werden wir gerupft, obwohl wir nichts falsch gemacht haben? Warum dürfen wir nur gackern, wenn es ins Protokoll passt? Warum glauben wir dem Fuchs, obwohl er nicht einmal selber fliegt? Sie stellte Fragen. Und das war gefährlich. Die anderen Gänse zischten: „Ruhe! Du gefährdest uns alle! Du bist eine Verschwörungsgans!“ Der Fuchs aber lächelte. „Was für ein freigeistiges Federtier!“, sagte er. Und notierte ihren Namen.

Doch die Einzige hörte nicht auf. Sie beobachtete den Fuchs. Seine Wege, seine Worte, seine Schlupflöcher. Sie erkannte: Er braucht nicht das Gehege – er braucht unsere Angst. Nicht das Gatter hält uns – sondern unser Glaube an den Fuchs. Und so geschah es an einem grauen Morgen, dass die Einzige sich aufrichtete. Nicht mit Gewalt, sondern mit Blick. Nicht mit Gackern, sondern mit Stille. Sie sah den Fuchs an. Und der Fuchs senkte den Blick. Denn was der Fuchs fürchtet, ist keine Herde. Er fürchtet die Gans, die weiß, dass sie keine Gans ist. Vom Menschen, der keine Gans ist

Ein Kommentar von Zeitgedanken

Diese kleine Parabel erzählt nicht von Tieren, sondern vom Zustand des Menschen in einer Ordnung, die ihn systematisch unter seine eigene Würde dressiert. Sie ist keine Fabel im Sinne moralischer Belehrung – sie ist ein Spiegel. Und was er zeigt, ist unangenehm.

Der Mensch, so die Lektion, ist kein Gänsetier – aber er wird dazu gemacht, wenn man ihn aus der Eigenverantwortung entlässt, ihn betreut, ihm Sicherheit verspricht und dafür das Risiko seines Menschseins nimmt. Die Gans in der Parabel steht für den Menschen im Modus der Anpassung: sozialisiert, verwaltet, erwartungstreu – und zur Selbstbefragung unfähig, solange der Stall steht.

Der Fuchs hingegen steht nicht für das Raubtierhafte, sondern für den listigen Menschen, der den Menschen als formbares Tier begreift. Er ist Bürokrat, Pädagoge, Politiker, Medienmacher, Funktionär – nicht aus Bosheit, sondern aus kühler Überzeugung, dass Ordnung klüger sei als Freiheit, dass Dressur zivilisierter sei als Autonomie. Der Fuchs handelt nicht gegen das Gesetz – er ist das Gesetz.

Doch worin liegt der Bruch? Die Parabel bricht mit einer Szene, die keine Gewalt enthält – sondern Bewusstsein. Die Gans steht auf, nicht um zu kämpfen, sondern um zu sehen. Und dieses Sehen erschüttert die Ordnung, weil sie auf Blindheit gebaut war. Das Erwachen des Menschen ist keine Rebellion – es ist ein Ausstieg aus dem Spiel. Nicht gegen den Fuchs, nicht gegen das System – sondern für das Eigene. Für das, was Stirner „den Einzigen“ nennt: den Menschen in seiner Unvertretbarkeit, in seiner Freiheit, sich nicht mehr als Mittel behandeln zu lassen.

Die anderen Gänse? Sie bleiben zurück. Noch. Denn das Stalltor war nie verschlossen. Es war nur mit Geschichten vernagelt – und mit Angst versiegelt. Die wahre Frage der Parabel lautet daher nicht: Wie besiegt man den Fuchs? Sondern: Wie entzieht man sich der Rolle, Gans zu sein? Das ist die Arbeit, zu der der Mensch heute gerufen ist – wenn er Mensch sein will.

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