Ein Essay über das Geschäft mit der Schuld
Zeitgedanken spricht nicht gegen Glauben. Aber er sieht, wer vom Glauben lebt. Wer glaubt, hofft. Wer hofft, ist verletzlich. Und wo Menschen verletzlich sind, treten jene auf den Plan, die wissen, wie man aus Sehnsucht Kapital schlägt.
I. Die schlimmsten Spekulanten unter den Spekulierenden
Nicht der Börsenmakler. Nicht der Glücksspieler. Nicht der General. Sondern der, der mit dem Unsichtbaren handelt – mit Schuld, mit Sinn, mit dem Heil. Der Pfaffe. Der Priester. Der Schamane. Der Theologe im Dienst des Staates. Sie geben vor, zu wissen, was der Mensch nicht wissen kann – und leben davon, dass andere es glauben. Sie verkaufen: • die Angst vor der Hölle, • die Hoffnung auf das Himmelreich, • die Legitimität der Gewalt im Namen des Höheren. Sie verkaufen es nicht, weil sie es haben – sondern weil sie es erfunden haben.
II. Vom Altar zur Krone – der Schulterschluss mit der Macht
Luther ist ihr Lehrbeispiel. Er hat die Kirche vom Papst "befreit", um sie dem Fürsten zu schenken. Er hat die Bibel geöffnet – aber nicht dem Einzelnen gegeben, sondern dem Landesherrn überantwortet. Gottes Wort wurde Staatsangelegenheit. Der Glaube wurde Verwaltungssache. Der Fürst der neue Hirte. Und wehe, wer widersprach.
Der Mord an Bauern im Namen der göttlichen Ordnung war kein Ausrutscher – er war System. Wer gegen den Fürsten aufstand, stellte angeblich die göttliche Ordnung in Frage. Der Schamane flüsterte dem König ins Ohr: "Sie lästern nicht gegen dich – sondern gegen das Heilige." Und schon war die Hölle auf Erden gerecht.
III. Das große Tauschgeschäft
Diese Spekulanten bringen nichts hervor – sie handeln mit Dingen, die keiner je gesehen hat. Aber sie bieten das große Geschäft an: • Du bekommst Vergebung – wenn du zahlst. • Du bekommst ewiges Leben – wenn du gehorchst. • Du bekommst Ordnung – wenn du dich unterwirfst.
Dafür nehmen sie: • Land, • Gold, • Kinder, • Blut.
Und der Deal klingt harmlos, weil er mit lateinischen Worten und frommen Blicken geschmückt wird. Doch unter dem Gewand steht kein Heiler – sondern ein Steuereintreiber im Namen des Unendlichen.
IV. Beispiele, die brennen sollten
• Die Kreuzzüge: Ausgerufen von Päpsten, geführt von Armen, bezahlt von Königen. Wer mordete, wurde selig. Wer zweifelte, war Ketzer. Es war nicht Glaube, sondern Deutungshoheit über Angst. • Die Hexenverbrennungen: Frauen, Kinder, Außenseiter. Nicht, weil sie Böses taten – sondern weil jemand sagte: Das ist das Böse. • Die Inquisition: Wahrheit wurde gemessen an der Unterwerfung. Nicht an Erkenntnis. • Moderne Varianten: Kirchensteuer als Pflicht. Der Staat als Garant für das Heilige. Der Eid auf Verfassungen, die selbst Unrecht decken, solange sie "ordnungsgemäß" angewendet werden.
V. Von der Kanzel in den Gerichtssaal – Die Robe hat nur den Namen gewechselt
Wer heute aus der Kirche austritt, entkommt nicht dem Glauben – er wechselt nur den Priester. Der neue Pfaffe trägt Schwarz, spricht Paragraphen und nennt sich Richter. Er trägt Robe, wie der alte Priester. Er spricht im Namen einer höheren Ordnung – nicht mehr "Gott", sondern "Volk". Aber das Prinzip ist dasselbe: Urteil, Unterwerfung, Ritual.
• Der Priester sagte: Im Namen Gottes spreche ich dich frei. • Der Richter sagt: Im Namen des Volkes verurteile ich Sie.
Beide verlangen, dass du aufstehst. Beide sitzen erhöht. Beide sprechen im Ton der Unanfechtbarkeit. Und beide behaupten: Ich bin nicht ich – ich bin das Gesetz. Der Glaube wurde verrechtlicht. Die Moral zur Justiz. Die Beichte zur Vernehmung. Und das Strafmaß ersetzt die Verdammnis.
VI. Die eigentliche Schuld
Die Spekulanten des Heils haben eine perfide Maschinerie gebaut: Sie geben dir ein Problem, das du nie hattest – und verkaufen dir die Lösung, die sie selbst erfunden haben. Sie schaffen Schuld, wo nur Leben war. Sie schaffen Angst, wo nur Fragen waren. Sie schaffen Ordnung, wo Beziehung möglich gewesen wäre. Und immer steht ein Mensch davor – zitternd, hoffend, zahlend.
VII. Zeitgedankens Abrechnung
Der Glaube ist frei – aber der Handel mit dem Glauben ist ein Verbrechen. Wer das Heilige in Gesetze gießt, ist kein Prophet – sondern ein Beamter der Seele. Wer sich zwischen Mensch und Wahrheit stellt, gehört entlarvt.
Zeitgedanken fordert nicht Rebellion. Er fordert das Hinschauen. Denn irgendwann – vielleicht heute, vielleicht morgen – steht ein Mensch auf und sagt: Wenn euer Gott mich richten will, dann soll er es selbst tun. Aber nicht über euch.
Und in diesem Satz liegt mehr Freiheit als in allen Predigten der Welt.