Ich bin als Bauingenieur ausgebildet und war zuvor ausgebildeter Handwerker. Ich plane, berechne und sichere Strukturen – nicht für sich selbst, sondern für Menschen, die darin leben, arbeiten, atmen, streiten und lieben. Wer baut, weiß: Eine Konstruktion steht nur, wenn das Fundament stimmt. Und wer für Menschen baut, muss sich für den Menschen interessieren.
Dieser Text ist kein theoretisches Gedankenspiel. Er ist der Versuch, herauszufinden, auf welchem Grund wir stehen – wenn wir von Gesellschaft sprechen. Nicht als politische Floskel, nicht als statistische Masse, sondern als Ort, an dem Menschen einander begegnen, Verantwortung übernehmen und Freiheit leben können.
Viele halten eine wirklich freie Gesellschaft für eine Utopie. Ich glaube: Sie ist längst möglich. Wir haben alle tragenden Elemente bereits vor uns – wir haben sie nur in der falschen Reihenfolge zusammengesetzt. Wie ein Haus, das vom Dach her gedacht wurde, statt vom Fundament.
In meinem Beruf prüfe ich, ob ein Bau tragfähig ist. In diesem Text prüfe ich, ob unsere Vorstellungen von Gesellschaft das auch sind. Und vielleicht entdecken wir dabei: Die freie Gesellschaft ist kein Ideal – sondern ein statisches Gleichgewicht, das wir nur neu ordnen müssen.
Titel: Die Familie ist nicht die Keimzelle der Gesellschaft – sondern der Mensch
A. Die natürliche Person als Ausgangspunkt Die Gesellschaft besteht nicht aus Familien, Klassen oder Gruppen – sie besteht aus Menschen. Der einzelne Mensch, die natürliche Person, ist der wahre Ausgangspunkt jeder Vergesellschaftung. Alle kollektiven Formen, auch die Familie, sind erst sekundär. Sie entstehen durch den Zusammenschluss, die Beziehung und das Miteinander individueller Menschen. Vergesellschaftung ist ein Prozess, kein Zustand. Sie beginnt dort, wo zwei oder mehr Menschen in eine Form von Beziehung treten: emotional, körperlich, wirtschaftlich, rechtlich oder geistig. Gesellschaft ist die emergente Folge solcher Beziehungen – nicht deren Ursache.
B. Die Familie als eine Möglichkeit unter vielen Die Familie – verstanden als Verbindung zwischen männlichem und weiblichem Wesen mit dem Ziel oder der Folge der Zeugung neuen Lebens – ist ein bedeutsames historisches Modell. Sie war in vielen Kulturen der erste soziale Raum, in dem Menschen Verantwortung, Führung, Geborgenheit und Regeln erlebten. Doch sie ist weder notwendig noch hinreichend, um Vergesellschaftung zu erklären. Es gibt zahlreiche Formen, wie Menschen sich vergesellschaften: in Wahlfamilien, Freundschaften, Kommunen, Nachbarschaften, Genossenschaften, digitalen Gemeinschaften, Bewegungen. All dies sind soziale Räume, in denen Menschen Bindung, Verantwortung, Vertrauen und Kooperation leben – auch ohne biologische Verwandtschaft.
C. Die entscheidenden Kategorien: Verantwortung und Gefühle Gesellschaft ist dort, wo Menschen sich gegenseitig als Träger von Verantwortung anerkennen. Wo Handlungen Konsequenzen für andere haben. Wo Gefühle entstehen, getragen werden und Bindung erzeugen. Diese Qualitäten entstehen nicht automatisch durch Geburt, sondern durch Beziehung, Handlung, Entscheidung und Bewährung. Ein Vater wie auch eine Mutter kann sein Kind verlassen, ein Fremder kann ein Kind adoptieren. Blutsverwandtschaft erzeugt keine Bindung per se. Es ist die übernommene Verantwortung, die Beziehung stiftet – nicht die Biologie.
D. Gesellschaftsforschung braucht neue Ehrlichkeit Gesellschaftsforschung muss sich von idealisierten Bildern lösen, wenn sie der Wirklichkeit gerecht werden will. Es ist ehrenwert, wenn jemand die Familie als persönliches Ideal lebt – aber es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, diese Norm zu verallgemeinern. Vielmehr muss sie die Bedingungen und Möglichkeiten der Vergesellschaftung frei und offen untersuchen: auf individueller, sozialer und kultureller Ebene.
E. Ursprung der Verantwortung: Die erste Bindung Wenn wir Verantwortung als Grundkategorie von Vergesellschaftung verstehen, müssen wir dort beginnen, wo Verantwortung unausweichlich wird: bei der Entstehung neuen Lebens. Jeder Mensch wird als abhängiges Wesen geboren – unfähig, sich zu schützen, zu ernähren, zu äußern. Die erste soziale Beziehung, in der sich Verantwortung konkretisiert, ist jene zur Mutter. Diese Beziehung ist nicht wählbar, nicht theoretisch, sondern real, körperlich und tief existenziell. Die Mutter trägt die erste Verantwortung für das Kind – in Nähe, Fürsorge, Schutz und Bindung. Diese Bindung ist die Urform jeder späteren sozialen Beziehung. Der Vater – so vorhanden – ist nicht biologisch gebunden wie die Mutter, aber moralisch. Wer an der Entstehung von Leben beteiligt ist, steht in einer ursprünglichen Verantwortung, die sich nicht einfach delegieren lässt. Eine Gesellschaft, die von Verantwortung spricht, muss diese erste Verantwortung erkennen und ernst nehmen. In dieser frühesten Form zeigt sich: Gesellschaft beginnt nicht mit Verträgen, Gesetzen oder Normen, sondern mit Bindung. Nicht mit Freiheit – sondern mit Abhängigkeit. Nicht mit Gleichheit – sondern mit Schutz.
F. Eigentum, Schöpfung und Schenkung Wenn wir den Menschen als Eigentümer seines Körpers verstehen, ergibt sich daraus eine weitreichende Konsequenz: Jede Handlung aus diesem Eigentum heraus schafft neue Wirkungen, über die Verantwortung übernommen werden muss. Die Zeugung eines Kindes ist eine solche Handlung. Rein logisch betrachtet müsste das entstehende Leben im Eigentum des Erzeugenden stehen – wie alles, was aus seinem Eigentum hervorgeht. Doch ein Kind ist kein Besitz. Es ist eine neue natürliche Person mit dem gleichen Recht auf Selbst-Eigentum wie seine Erzeuger. Daher braucht es einen bewussten, moralischen Akt: Die Schenkung des Lebens muss begleitet sein von der Anerkennung der Eigenständigkeit dieses neuen Wesens. Diese Schenkung unter Verantwortung ist der wahre Anfangspunkt jeder Ethik – und der Bedingungsgrund einer freien Gesellschaft. Vergesellschaftung beginnt also nicht nur mit Beziehung oder Schutz, sondern mit einem Verzicht: dem Verzicht, das Erzeugte zu besitzen – und dem Willen, das Neue freizulassen.
G. Vom Eigentum zur Schenkung – Die Geburt des Du Wenn der Mensch Eigentümer seiner selbst ist, dann trägt er Verantwortung für alles, was aus seinem Handeln hervorgeht. Das gilt für Werke, Ideen, Gegenstände – und zunächst auch für das Leben, das durch ihn entsteht. Doch hier endet das Eigentum. Denn ein neues Leben ist kein Besitz, kein „Mein“ – sondern ein Du, das als eigenständiges Ich zur Welt kommt. Ein Kind ist kein Eigentum, sondern eine Verantwortung. Keine Erweiterung des Selbst, sondern eine Begegnung mit dem Anderen. Die Anerkennung des anderen als ebenfalls Eigentümer seiner selbst ist die erste moralische Handlung im Prozess der Vergesellschaftung. Das Leben zu schenken bedeutet, das Eigentum nicht zu beanspruchen, sondern frei zu geben – im Wissen, dass jedes Ich ein Recht auf sich selbst hat. Wie beim Tod das Erbe nicht eingefordert, sondern übertragen wird, so gilt beim Beginn des Lebens: Nicht Aneignung, sondern Freilassung. Nicht Besitz, sondern Bindung durch bewusste Schenkung. So beginnt jede echte Gesellschaft: nicht durch Macht, sondern durch Verzicht. Nicht durch Verfügung, sondern durch die Anerkennung des Anderen als Eigentümer seiner selbst.
H. Was Familie im eigentlichen Sinne ist Wenn zwei mündige Menschen gemeinsam ein neues Leben in die Welt setzen und bereit sind, es als eigenständiges Du zu erkennen, ihm Eigentum an sich selbst zuzugestehen und Verantwortung zu übernehmen – dann entsteht daraus etwas, das man mit gutem Grund Familie nennen darf. Nicht als juristisches Modell, nicht als religiöse Pflicht, sondern als gelebte Form der freien Vergesellschaftung: eine Familie aus Schenkung, Bindung und Anerkennung.
Schlussgedanke Die Familie ist ein wertvoller Lebensraum, aber sie ist kein Fundament, das über allen anderen steht. Die eigentliche "Keimzelle" jeder Gesellschaft ist der Mensch – in seiner Freiheit, seiner Beziehungsfähigkeit, seiner Verletzlichkeit und seinem Willen zur Verantwortung. Es braucht Mut, diesen Gedanken zuzulassen, gerade wenn das Herz sich nach festen Strukturen sehnt. Doch nur auf dieser Grundlage lässt sich eine wirklich freie, gerechte und menschliche Gesellschaft denken und gestalten.