Man hört es überall:
„Der Mensch ist ein soziales Wesen.“ Dieser Satz hat die Eleganz einer Schultafelweisheit – so selbstverständlich, dass niemand wagt, zu widersprechen. Er klingt nach Naturgesetz, wie der Sonnenaufgang. Doch wie so oft ist es mit den scheinbar ewigen Wahrheiten: Bei genauerem Hinsehen sind sie eher politische Parolen als anthropologische Erkenntnisse.
Stolz – echt oder falsch?
Fangen wir klein an. Stolz kennt jeder. Der eine trägt ihn still im Herzen, wenn er etwas geschafft hat. Der andere braucht das Publikum, die Bühne, den Applaus – ohne sie ist er nackt. Der erste Fall: richtiger Stolz. Der zweite: falscher Stolz. Warum diese Unterscheidung? Weil sie uns zeigt, was Begriffe wie „Gemeinwohl“ wirklich sind: Masken falschen Stolzes. Staaten, Konzerne, Parteien – alle schieben das große Wort vor sich her, um eigene Interessen glänzen zu lassen. Wer „Gemeinwohl“ ruft, erhebt sich moralisch über andere, ohne je konkret sagen zu müssen, wem es nützt.
Die Kritik der Kritiker
Man könnte nun hoffen, die Kritiker würden diesen Betrug entlarven. Stattdessen predigen sie im gleichen Ton: „Soziales hier, Gemeinwohl dort, Solidarität überall.“ Sie beschweren sich über Macht, bedienen sich aber derselben Sprachtricks. So entsteht eine eigene Kritikerkaste: Sie lebt von Empörung, von moralischer Überlegenheit, von der Pose des Widerstands – und reproduziert doch nur die alten Herrschaftsbegriffe. Ihr Stolz ist der Stolz des erhobenen Zeigefingers.
Der Mensch: kein Herdentier, sondern Spekulant
Sehen wir lieber hin, wie der Mensch wirklich funktioniert. Er beginnt nicht mit Sozialität, sondern mit Spekulation: beobachten, überlegen, Listen schmieden, Wissen und Können bündeln. Speculari hieß das im Lateinischen – spähen, schauen, abwägen. Sozial wird der Mensch erst später, wenn es nützlich ist. Ein Trapper in Kanada lebt auch ohne Gemeinschaft, ein Ingenieur löst ein Detail nicht in der Gruppe, sondern am Reißbrett. Erst wenn Kooperation Vorteile bringt, tritt Sozialität auf den Plan. Sie ist Option, nicht Ursprung.
Freundschaft: Kapital ohne Bankkonto
Selbst die Freundschaft, das Edelste unter Menschen, folgt dieser Logik. Sie muss gepflegt werden – und Pflege heißt Aufwand: Zeit, Energie, Aufmerksamkeit. Eine einseitige Freundschaft? Gibt es nicht. Sie lebt wie jeder Tausch vom Geben und Nehmen. Damit ist Freundschaft Kapital. Kein Geldkapital, sondern Vertrauenskapital, Zeitkapital, Erinnerungskapital. Sie speichert gemeinsame Erlebnisse wie Guthaben, das man in schwierigen Zeiten abrufen kann. Die älteste Form von Kapital – älter als jede Münze.
Geld: der unvollendete Tausch
Und was ist dann Geld? Eine List, die den Tausch aufschiebt. Statt Brot gegen Fleisch gibt es Brot gegen Geld – und das Versprechen, dass man irgendwann Fleisch dafür bekommt. Geld ist das vertragliche Ende, nicht die reale Vollendung des Tausches. Darum ist Geld kein Kapital, sondern nur Anspruch darauf. Ein Pfandzettel auf die Lebenszeit anderer. Wer Geld kontrolliert, kontrolliert nicht Dinge, sondern Menschen.
Kapitalismus: das große Missverständnis
Die meisten verwechseln Geld mit Kapital. Kapital ist gebundene Lebenszeit in Form von Werkzeug, Gütern, Wissen. Geld ist nur Anspruch darauf. Kapitalismus ist deshalb weniger das „System des Geldes“, sondern das System, in dem Ansprüche wichtiger geworden sind als Substanz. Die Listigen leben von den Schaffenden. Der falsche Stolz der Märkte und Staaten besteht darin, Zahlen für Wirklichkeit auszugeben.
Fazit: eine Frage des Stolzes
Der Mensch ist nicht soziales Wesen, sondern ökonomisches. Er ist Spekulant, nicht Herdentier. Er ordnet zuerst sein Eigenes – Körper, Geist, Zeit, Energie – und wird erst dann sozial, wenn es sich lohnt. Alles andere ist falscher Stolz im Namen des Gemeinwohls. Und genau darin liegt die Pointe: Wer die großen Worte zu laut benutzt, verrät damit meist, dass er nichts Eigenes vorzuweisen hat.